Synthesegedanken zur Stadt und ihrem Luftraum

Hier ein besinnlicher Gedanke zur Adventszeit: Der Luftraum über der Stadt bewegt täglich unser Gemüt. Jetzt drückend, prächtig im Herbst und heiter im hellen Laub des Frühlings. Die Mulde des offenen Gletschertals ist die darunter liegende Gegenform der Stadt. Hügelzüge und der See sind die täglich sichtbaren Geschenke. In zeitlicher Hinsicht erstreckt sich die Metamorphose des Stadtgemäldes vom kompakten ummauerten Stadtkörper des Mittelalters über die um die vorletzte Jahrhundertwende prächtig gesetzten baulichen Akzente (Haus Metropol etc.) verbunden mit dem Ausgreifen zum See durch Quaianlagen bis zum eingestreuten Stoppelfeld der Hochhäuser von heute. 

Aus der empfindsamen Volksseele heraus wenig verständlich sind diese um 2001 unbedarft über die halbe Stadt geworfenen Hochhausgebiete. Erstens viel zu gross und zweitens oft geradezu grotesk platziert: Die Tramdepôt-Hochhäuser üben jetzt ihr Zerstörungswerk auf alle Zeiten aus (Posting vom 30. September 2024).

Die Aufgabe der heute lebenden Generation ist es, sich mit diesem missglückten Erbe der jüngsten Zeit herumzuschlagen. Die Revision der Hochhausrichtlinien ist in Beratung. Der gegenwärtige noch vorherrschende Ton ist: «so tun wie wenn alles in Ordnung wäre» und noch schlimmer:  «im Missglückten verstärkt fortfahren». Nur kein schmerzvolles Aufwachen, nur keine tapfere Bilanz. Doch nur eine solche Einsicht erlaubt die Formulierung eines zeitgemässen Städtebaus in unserer einmaligen Topografie und in unserer Zeit mit den Anforderungen aus Verdichtung/Energie/Klima/CO2». Die Theorie zu Letzterem haben wir ja schon im Posting mit dem Pixelbild vom 18. November kennengelernt.

Die Stadt und ihr Luftraum

In Paris gilt die ungeschriebene Regel, dass Bauten, die den von Präfekt Haussmann definierten Höhenplafond «Gabarit de Paris» übersteigen, von öffentlichem Interesse sein müssen. Der Luftraum über der Stadt hat einen kulturellen Wert. Deshalb diese Regel im Gemälde der Stadt. Im unkritischen Amerikawahn des Nachkriegseuropas wollten alle ein bisschen «New York» sein. Alles verständlich in der damaligen Zeit. «Amerika» hat rund um den Globus den Lebensstil vorgegeben. Whisky verdrängte Cognac. Die Kühlschränke hiessen Frigidaire. Mancherorts wurden die Qualitäten, die europäische Städte ausmachen, übertönt. Das De Gaulle-Frankreich baute in Paris die schwarze Tour Montparnasse. Das zufällig gefundene Bild zeigt sie nebeneinander: den Eiffelturm als für die ganze Bürgerschaft (und die Welt) gültiges Wahrzeichen und den für die Allgemeinheit völlig unbedeutenden Bürobau. Nicht nur Wahrzeichen sondern auch andere für die Allgemeinheit bedeutende Bauten dürfen überragen: Der Grandpalais – grösster Ausstellungsbau der Welt – mit seinem gigantischen Glasdach und aus neuerer Zeit die Ausstellungsmaschine des Centre Pompidou. François Mitterrand reichte dann noch die Bibliothèque Nationale mit ihren vier Ecktürmen nach.

Könnte eine solche europäische Haltung auch die Stadtbehörde von Zürich dazu bewegen, von der Weiterführung ihres unästhetischen «Stoppelfelds» – dem Hochhauwildwuchs – abzusehen? Wie wir im Posting vom 18. November gesehen haben, sprechen mit Energie/KlimaCO2 noch weitere ebenso triftige und sehr gegenwärtige Gründe für die Aufgabe dieser Bauform.

ISOS und das Stadtgewebe

ISOS kommt vom Stadtgewebe her – «von unten», von der Substanz der Stadt. Wenn die ehemalige CS ihre erst dreissigjährige behäbige Betonsiedlung «Brunaupark» am Uetliberghang abbrechen will und dazu noch – volumetrisch gesehen – mit dem Zweihänder dreinfährt, muss es nicht erstaunen, wenn sie vor Gericht scheitert. Zu hohe Neubauzeilen der CS bedrängen die qualitätvolle Reihenhausbebauung, die in V-Form einen Grünraum einschliesst. Zwei Aspekte geben zu denken. Die überbordende Volumetrik gerade neben dieser qualitätvollen Wohn-Architektur stört jedes vernünftige Gemüt. Erneuerung darf sein, das gehört zum Wesen einer Stadt. ISOS – siehe das letzte Posting – beschreibt die Stadtgebiete in professioneller Art und bietet Grundlagen für die Einordnung von Neubauten. Wie im letzten Sommer herauskam, hat die Stadt ISOS nicht ernst genommen. Das Gericht hat der Einsprache der Nachbarn «Laubegg» recht gegeben. Damit ist städtebauliche Vernunft rechtsfähig geworden. 

Der zweite Punkt ist der energieintensive Abriss einer Betonsiedlung. Was noch vor wenigen Jahren durchging, stösst heute auf Widerspruch. Beides zusammengenommen, lässt die Pläne der (ehemaligen) CS gewalttätig und auch schon etwas altmodisch erscheinen. Als eine Studentengruppe der ETH günstige Erweiterungsmöglichkeiten vorstellte, war das nicht willkommen: «zu kleine Investitionssumme».

ISOS

Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz ist eine grosse Stütze in der in unserem Land eher unterdotierten Disziplin Städtebau. Leitlinien, an die man sich halten kann, wenn man qualitätvoll bauen will, sind rar. Sucht man hilfreiche Ansätze, in einer Stadt baulich einzugreifen, zu reussieren und die Stadt vorwärts zu bringen, stösst man auf die Zonenpläne, die regeln, in welchen Zonen wie viele Etagen zugelassen sind. Das ist der städtebauliche Grundstock, genügt aber nicht für eine ehrgeizige Stadt, die die Summe von wertvollen Bausteinen anstrebt. Der Absturz in die unerfreuliche «Bauerei» vorgegeben.

Hier kommt die Hilfestellung des ISOS. In den meisten Städten und Dörfern der Schweiz bedeuten die Beurteilungen der Stadtgewebe im ISOS ein aktive Gestaltungsgrundlage für Umbau, Wachstum oder innere Verdichtung und die Synthese von Alt & Neu. Wer die Orte einzig als «Investitionsteppich» benutzen will, hat daran nicht die grösste Freude. An der Einstellung gegenüber ISOS lässt sich die Haltung z.B. von politischen Personen, Bauherrschaften und Presse gut ablesen.

Im Rahmen von Massnahmen der Raumplanung wurde 1973 die Architektin Sibylle Heusser damit beauftragt, ein System in die Erfassung der Schweizerischen Ortsbilder zu bringen. Mit ihrem Inventar ist sie quasi zu einer nationalen Pionierin im Feld des Städtebaus geworden.

An unserer Zivilisation bauen

Wenn wir in unserer Epoche, in unserem gegenwärtigen Bauboom, bauen, bauen wir etwas, auf das wir stolz sein können? Gereicht es uns zur Verbesserung unseres Lebensraumes? Erweitert es unseren Lebensraum auf eine Art, die uns gefällt, eine Art, die wir den Besuchern der Stadt gerne zeigen – als Ausweis unserer lokalen Zivilisation?: «Schaut, was wir da Neues gemacht haben». Ein Beispiel im Posting vom 3. Juni 2024 «Erfolgreiche Arbeit im Stadtgewebe», Projekt Dennlerstrasse. Auch 2. Juni, «Mehr als wohnen» Leutschenbach.

Wissen wir, dass da Behörden für unsere Stadt mit Begeisterung und mit Inspiration im Einsatz sind? Spüren wir, dass da ein Herz pocht und sich uns laufend mit Freude mitteilt? Reagiert die Bevölkerung? Und auf der tatsächlichen Ebene: agieren die Akteure – ob Private, Investoren oder Genossenschaften im Strom der entstandenen Zivilisation? Und: wird in der Presse davon gesprochen?

Vergessen wir nicht: einer Stadt geht es gut oder besser, wenn es ihr gelingt, einen glücklichen Strom zu erzeugen. Das war Ende des 19. Jahrhunderts so. Man baute mit Würde und man organisierte die Stadt, z.B. verschaffte man ihr einen grossartigen Zugang zum See. Es ist die Aufgabe der Bauverwaltung (zusammen mit Privaten), mögliche Errungenschaften aufzuzeigen. Wenn sie in der Zeit liegen, ist der Erfolg garantiert. Rousseau hat von «Volonté Générale» gesprochen.

Wie durchbrechen wir das herrschende Tief, das auch Santiago Calatrava am 14. November in der NZZ beklagte und schon früher Prof. Alain Thierstein mit der Bemerkung «fehlende Governance».

Kluge Städte passen ihre Stadtmodelle an

Die Schlussbemerkung des letzten Postings lautete «Paris 4 Mal so dicht wie Zürich» ohne Hochhäuser. Zürich befindet sich schon zu lange unbegründet und unwidersprochen im Hochhauswahn. Argumente für eine humanere Unterbringungsform und für das Bauen mit weniger Energie / CO2 werden behördlich noch immer beiseitegeschoben. Es ist deshalb unumgänglich geworden, die Wissenshaft aufzubieten. Sie sehen den QR-Code auf dem Bild. Zuerivitruv ist zuversichtlich, dass Sie auf einem Weg zum wissenschaftlichen Papier der Universitäten Cambridge UK und Boulder Colorado USA gelangen. Sie werden eine Kürzung und Übersetzung vorfinden, aber auch den Link zum Originalpapier.

Der QR-Code funktioniert mit dem Handy.

Der sicherste Zugang:   

https://www.asaz-arch.ch/dokumente

(dort der Beitrag «Entkopplung von Dichte und Gebäudehöhe»)

Das Papier bringt zeitgemässe Kriterien für den Städtebau. Es kann uns in Zürich helfen, den Städtebau für die nächsten Jahrzehnte zu formulieren. 

Fatale Höhenentwicklung

Die problematische Berliner Hochhaussiedlung des letzten Postings heisst nicht Siemens- sondern Gropiusstadt. Zuerivitruv dankt der Leserschaft für den Hinweis. Namensgeber ist Bauhausarchitekt Walter Gropius, der vor dem Krieg in die USA emigrierte. Hintergrund des Auftrags waren sein Wissen und Gedanken zur Wiedergutmachung. Gropius hat die viel zu grosse Höhenentwicklung und die damit verbundene Anonymisierung abgelehnt. Auf Druck der Stadtverwaltung wurde dann der Fehler doch begangen. Der Umgang mit der Natur des Menschen ist nicht banal: wird sein Wesen verletzt, kommt die Reaktion. Mathematisch lässt sich das nicht vorhersagen, doch aus der reichen Erfahrung, die in Europa längst vorliegt. Weder Statik noch Rentabilität dürfen die seelischen Werte verdrängen. 

Zürich ist gerade fieberhaft daran, wider alle Erfahrung neue «Gropiusstädte» zu bauen: Entlang der Bahngeleise und sogar auf der Sonnenseite der Limmat. Solche Rückfälle sind frustrierend und beschämend. «Erfahrung und Besserwerden» sollte in unserem Westen den Fortschritt möglich machen. Dass sich ein Gemeinwesen an Werten orientiert, ist zu erwarten. Dass Zürich nach 20 Jahren Hochhausgebieten jetzt gerade wieder daran ist, eine neue und verstärkte Auflage zu organisieren, weniger. Doch Hoffnung blinkt aus anderer Richtung: Die Universitäten Cambridge (UK) und Boulder Colorado (USA) haben ein Forschungspapier publiziert, das der Frage nachgeht, welche Stadtbauform bezüglich Energie/Klima/CO2 die günstigste Bilanz erringt. Es ist «low rise / high density». Damit sind wir bei einem Stadtgewebe von 4-6 Etagen. Die Wissenschafter erlaubten sich in unserer Welt einen Rundblick und machten Paris und Barcelona zu den Favoriten unter den bereits gebauten Städten. Im Fall von Paris ist es das Konzept von Haussmann mit seinen 5 ½ Etagen – übrigens vier Mal so dicht wie Zürich.

Zürich-Berlin: StoppelfeldExport

Die NZZ berichtete am 30. Oktober 2024, dass in Berliner Hochhäuser nur zaghaft in den Himmel wachsen. Die Stadt ist weltbekannt für ihre hervorragenden urbanen Flachbausiedlungen von vor, zwischen und nach den Kriegen. Die Hochhäuser der Siemensstadt wurden durch das Buch «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» disqualifiziert.

Die Architektin Regula Lüscher verliess das Zürcher Amt für Städtebau um 2007 in Berlin Senatsbaudirektorin zu werden. Bei ihrem Abgang von Zürich wurde sie gefragt, auf was sie besonders stolz sei. Ihre Antwort: «Der Prime Tower». 

Zürich als Disruptor der europäischen Stadtbilder?: Sein eigenes ist inzwischen zum unerfreulich chaotischen Stoppelfeld geworden. Dann ist, gefördert von Lüscher, Berlin drangekommen. In München wehrt sich die Bürgerschaft zurzeit vehement gegen Hochhausgebiete und die Zürcher Stadtbehörde ist gerade daran, eine 2. Stärkere Stufe seiner Hochhausrakete zu zünden. Die Pläne liegen in der gemeinderätlichen Kommission.

Doch jetzt, wo Energie, Klima und CO2 zu den absoluten Massstäben geworden sind, sieht es plötzlich ganz anders aus. Das «Wetter» hat buchstäblich gedreht:  2023 haben die «Grandine» nach der Emilia/Romangna bereits im Tessin in die Dächer eingeschlagen. 2024 wird ohne Vorwarnung Valencia von Wassermassen überfallen und in Paris mussten ein paar Métrostationen schliessen. Entspannung wäre angesagt. Im Städtebau müsste das heissen: «ab jetzt keine Fehler mehr in Beton giessen». Jede aufgeweckte Gesellschaft und Stadt ändert die Spielregeln. Doch Zürich wälzt sich noch immer im Hochhaustraum und meint nach zwanzig Jahren noch immer «Hochhaus sei Städtebau».