Hors-Sol-Kinder

Der nächste grosse «Fall» mit 265 Wohnungen ist bereits im Bau: Die noch vor Ende Jahr bezugsbereite Wohnsiedlung «Letzi» besteht aus einem liegenden, jedoch achtstöckigen Mäander und an dessen Schlusspunkt einem 24-stöckigen Turm in dem Alterswohnungen gestapelt werden. Im Mäander sind ein Teil der Wohnungen für kinderreiche Familien vorgesehen. Wie wir von Marco Hüttenmoser (2 und 3 Postings zurück) wissen, ist mit dem dritten Stock Schluss mit gutem und umgebungsbezogenem Aufwachsen. Dass wir hier wieder den Staat mit dem Bau, diesmal von Wohnungen für kinderreiche Familien in abgehobener Höhe sehen, könnte in Zukunft für Erstaunen sogen.   

Hat da Masse Vorrang vor Klasse? Schliesst hier eiskalte technokratische Mengenbewältigung den menschengerechten Bau von Familienwohnungen aus? Wir sehen in unserer Stadt oft hochaufragende Wohnburgen die dem erinnernden Auge bekannt vorkommen, gegen den Himmel wachsen. Nicht nur die Höhe erschreckt, es ist auch die zu grosse und anonyme Zahl und daraus hervorgehend der längst nicht mehr menschliche Massstab. Dass in Zürich schon wieder Groteskes unkommentiert «passiert», beunruhigt. Dinge, die schon weit im letzten Jahrhundert in Verruf gekommen sind, auferstehen jetzt kaum widersprochen. Neuer Beton für vorzeitigen Abbruch, wie in Berlin Marzahn, oder in Paris mit «Cité des 4000»? 

Die Wohntürme von «Depôt Hard» und «Letzi» sind Zwillinge. Aufgetischt sind sie worden, weil solche Grossbauten mit ihrer Langlebigkeit für unsere Stadt noch Jahrzehnte oder ein Jahrhundert Zeugnis von dieser Mentalität geben werden.

Depot Hard: 200 Kinder des Luftverkehrs

Der bekannte und von Städten oft konsultierte dänische Experte Jan Gehl bemerkte im Jahr 2022 gegenüber der Zürcher P.S.-Zeitung pointiert, dass oberhalb des fünften Stocks die Menschen nicht mehr Teil der Stadt seien, sondern zum Luftverkehr gehörten. 

Von 500 Bewohnern werden 200 Kinder erwartet – das war am 8. Januar die Meldung anlässlich der Medienpräsentation der bald fertiggestellten Hochhaussiedlung auf dem Areal des Tramdepôts Hard am südlichen Limmatufer. Vergegenwärtigen wir uns den Exkurs der letzten beiden Postings, stellt sich die Frage des Aufwachsens dieser 200 Kinder zwischen der Ufermauer der Limmat im Norden und dem Autobahnzubringer auf der Südseite. Tatsächlich gibt es etwas Terrassenraum auf dem Dach des Depôts, doch ist der bereits «hors-sol» und zudem für die dort aufgereihten Maisonetten gedacht. Damit ist das Familienwohnen auf die Wohnung in luftiger Höhe beschränkt. Auf das ganze wesentliche Wohnumfeld, das für ein gutes und gelingendes Aufwachsen nötig ist, wird verzichtet. Man macht es wie in der DDR oder in West-Berlin in der Siemensstadt wo seinerzeit Drogenprobleme eskalierten und daraus das Buch «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» entstand. 

Handy-Bild aus dem heutigen Tages-Anzeiger

Schon als Dreijährige Freundinnen haben

Das ist nicht Angeberei, das ist Resultat von Marco Hüttenmosers Forschungen. Warum befasst sich «zuerivitruv» mit der frühen und mittleren Phase des Aufwachsens von Kindern? Er denkt u.a. auch an sich zurück und sieht die seltsame Bewältigung des Bevölkerungswachstums in Zürich durch Hochhausförderung: Baugesetze (Hochhauszonen) und Bauherrschaften auf fragwürdiger Bahn. Mit der Revision der Hochhausrichtlinien stünden Quadratkilometer neuer (zusätzlicher) Hochhauszonen im ganzen Norden und im Südwesten zur Debatte. «Stünden», weil die Frage u.a. in der Presse (auch in der Politik?) bis jetzt kein Echo gefunden hat. Ist die Stadt Zürich eine Rabenmutter? 

Hüttenmoser hat gesehen, dass schon Dreijährige ausserhalb der elterlichen Wohnung zuverlässige Freundschaften aufbauen können. Sie bewegen sich ganz anders und viel selbständiger. Dieses Kapital humaner Fähigkeiten akkumuliert sich später in der Gesellschaft. Ohne immer schon mit dem Geld zu winken, wird klar, dass sich Sorgfalt bei der Realisierung der Wohnform lohnt. Es ist nicht der materielle Lebensstandard der zählt, es ist die Umgebung des Aufwachsens. Gibt es die gute Umgebung – auch eine Beobachtung von Hüttenmoser – wollen Kinder am Wochenende nicht auf dem Rücksitz ausfahren.

Es ist eine Zivilisationsfrage, wie eine Stadt ihre Bevölkerung unterbringt: glücklich in Nachbarschaften und Quartieren oder anonym in isolierten Türmen gestapelt. 

Marco Hüttenmoser

«Kinder wachsen von selbst auf – man muss sie nur lassen». Stimmt oft, doch oft ist es wegen dem Autoverkehr schlichtweg zu gefährlich und kann nicht riskiert werden. «Von selbst aufwachsen» ist vor allem dann förderlich, wenn Kinder früh ihre Fähigkeiten entwickeln können. Man sagt, dass dies bis ins 5. Altersjahr passiert sein soll um dann seine Fortsetzung zu finden. Das ist im Hochhaus oben eingesperrt und an der Spielkonsole nicht möglich. 

Marco Hüttenmoser (Erziehungswissenschaftler und Kunsthistoriker) hat Aufwachsen & Umgebung in seinem Buch «Kindheit ohne Raum» untersucht.

Mit dem bekannten Kinderarzt Remo Largo kommt er auf anderen Wegen zu ähnlichen Schlüssen. Erdnah aufwachsen, freien Zugang nach aussen haben, dort Spielkameraden finden. Aber auch Gehölz und Wasser. Ist das alles erfüllt, bekommen wir eine Jugend, die unsere Gesellschaft, unseren Staat besser tragen wird.

Eine solche beste Umgebung für Kinder findet sich im Roten Hof (siehe letztes Posting), aber auch in der Umgebung der sogenannten Brache beim Hardturm. Dort ist experimentieren möglich – auch «Grüne» und zukunftsweisende Experimente.

Die innere Verdichtung

Wir erleben hier am Röntgenplatz eine spannende Geschichte. Durch Abbruch eines Bahndamms und die Verlegung der Geleise auf die Viaduktbögen wurde um 1900 Platz zur Errichtung von genossenschaftlichen Siedlungen frei. Die Genossenschaft BEP (Bundespersonal) hat im letzten Jahrzehnt das weitere Schicksal ihres hundertjährigen «Roten Hofes» wieder in die Hand genommen. Durch Entfernung eines Hofgebäudes und neue Innenfassaden wurde der Hof ent-düstert. Heute erleben wir in seinem Schutz schon auffallend jung velofahrende und miteinander spielende Kinder. Die neu aus Holz errichtete «Multifunktionspergola» bietet ihnen weiteren Bewegungsraum und den Erwachsenen Anlass sich zu treffen und auszuhelfen. «zuerivitruv» kannte den Roten Hof mit seinem prägnanten Rundtor schon lange. Doch als er im letzten Jahr unbemerkt hineinschlüpfte, war er von dem grossartigen Lebensraum im Inneren überwältigt. Das von der Stadt immer noch geförderte Hors-Sol-Wohnen im Hochhaus kann nichts davon bieten.

Der Vorbau einer neuen Innenfassade ermöglicht, grössere Grundrisse, Balkone und mehr Vielfalt im Wohnungsangebot, das sich vor 100 Jahren auf 3 1/2 Zimmer- Wohnungen beschränkte. Heute herrschen Familien- und Kleinwohnungen vor.

Wenn sich kluge Köpfe hinter bestehendes Stadtgewebe machen, gehen plötzlich erstaunlich viele Türen auf! Hier könnte eine neue Zürcher Bautradition entstehen – eine neue Volonté Générale.

Verdichtung durch Rochaden

   « Verdichtung durch Rochaden »

Wenn es um Verdichtung geht, hat die allzu simple Tabula Rasa-Methode mit Abriss und Leerkündigung subtilere Varianten erhalten. Über Aufstockung wurde schon in den Postings vom 23. Juni bis 4. Juli 2024 gesprochen. Hier wird die mathematische Gleichung neu geschrieben: Fix ist das Wohnen der Mieter. Ein Teil von ihnen zieht in den jeweiligen Neubau. 

Die Bilanz: Eine Verdichtung durch grössere Zahl der Wohnungen und alle Mieter behalten oder erhalten eine Bleibe. Am Schluss überleben 3 von 7 Altbauten. Wenn engagierte und kluge Köpfe Wege suchen gehen neue Türen auf.

Klima verlangt den urbanen Flachbau

Wir müssen zwischendurch auch einmal wissenschaftlich werden: Wir kennen das «Cambridge-Papier», 18. November 2024 auf «zuerivitruv». Die Universitäten Cambridge UK und Boulder Colorado USA haben das Forschungspapier

publiziert – ohne Ingenieure, ohne Architekten – rein wissenschaftlich mit der Frage: „Wie lassen sich Städte bezüglich CO2 im Bau und Betrieb optimieren? Welche Stadtform ist bezüglich CO2 die ideale? Es geht um den Stadtkörper als Ganzes. 

Sie kennen die Schlussfolgerung: 

  • Das Hochhaus ist für die Dichtebewältigung nicht notwendig (Paris ist ohne Hochhäuser 4x so dicht wie Zürich).
  • Die Idealform ist „low rise / high density”. Der Einfamilienhausteppich (zu verzettelt) und das Hochhaus (zu energieintensiv) scheiden aus. Das Papier nennt Paris und Barcelona als gute Beispiele. Paris: 5 ½ Etagen der Planung Haussmann – eine riesige flache Stadt (Défense ausgenommen).

Wir werfen nochmals einen Blick auf die ABZ-Siedlung Toblerstrasse und speziell auf das Spiel zwischen Aussenraum und Haus. Ein solches Gewebe kann nur gelingen, wenn das Haus flexibel wird und den Aussenraum als Partner sieht. Ist es ein Tango?

Paris muss nicht mehr viel machen: Seine Häuser (les «Haussmanniennes») haben schon die erforderliche Dichte mit den mindestens 5 ½ Etagen zu denen die geräumigen, inzwischen oft ausgebauten Dächer kommen. In Zürich stecken im «Cambridge-Rahmen» gesehen oft noch Reserven. An der Toblerstrasse wurde die Vorgängersiedlung abgebrochen. Als Alternative kommt Aufstockung in Frage.

Neues im urbanen Flachbau

Nach dem Unterbruch durch die Tagesaktualität der Depôt-Türme zurück zum begonnenen «Flow» im neuen Jahr: 

Vieles läuft gut im urbanen Flachbau (4-6) Etagen. Die Stimmung ist gut und innovativ. Es kommen neue Konzepte von Bau & Freiraum. Die liegenden Stangen (die Zeilenbauweise) und der übrigbleibende Restraum dazwischen wird langsam zur Vergangenheit. Der Aussenraum emanzipiert sich und wird Partner. Er erhält eine eigene Statur, Charakter und Grösse. Die Grösse entsteht durch örtliches Zurückweichen der Häuser, kombiniert mit deren Vortreten an anderer Stelle. Die Lockerung und das Spiel kann gegenüber den bisher starren und rechtwinkligen «Möbelstücken» grosse Vorteile bringen. Bei den abgebildeten Siedlungen handelt es sich Engimatt (private Bauherrschaft) und um ABZ Toblerstrasse, beides EMI Architekten.

«zuerivitruv» bringt einen Hauch davon, nicht zuletzt um aufzuzeigen, dass im guten europäischen urbanen Flachbau gerade in der Schweiz etwas läuft. «zuerivitruv» möchte nicht vergessen zu diesem Thema am 26. und 27. Januar 2021 einen Anfang in Basel am Schaffhauserrheinweg gemacht zu haben (Sarasin Anlagestiftung / Jessenvollenweider Architekten). Die Verdichtung im urbanen Flachbau gewinnt mit diesen Fortschritten einen noch grösseren Vorteil gegenüber dem disruptiven Hochhaus mit seinen sozialen und energetischen Nachteilen.