Limmatraum ent-thematisiert

Die im letzten Posting erwähnte Städtebauschwäche von Zürich bewahrheitet sich bei der Lektüre des Gegenvorschlags zur Uferschutzinitiative auf tragische Weise. Er wurde auf alle Ufer der Stadt Zürich erweitert. Der seit 30 Jahren schlafende und endlich der Therapie bedürfende Limmatraum ist ent-thematisiert und alles so verwässert, dass kein Gedanke mehr überlebt und nur noch wortreiche Zahn- und Ideenlosigkeit vorherrscht.

Die Uferschutzinitiative thematisiert den Limmatraum auch im räumlichen Sinn. Das kann nur gelingen, wenn Personen (hier Personengruppen) den Limmatraum tatsächlich durch Begehung kennen. Ein V-förmig offener und von Hochhäusern unbeeinträchtigter Querschnitt ist ein Begehren im Interesse der gesamten Bevölkerung. Ein Blick auf die Karte der Hochhausrichtlinien macht klar, dass diese ohne jegliche Rücksicht auf den Limmatraum ausgearbeitet worden sind: Eine 60 Meter-Zone erstreckt sich entlang der Limmat und parallel dazu eine 80 Meter-Zone, gefolgt von einer 3.5 Kilometer langen «Dubai-Zone» ohne Höhenbeschränkung. Nicht bemerkt wurde offenbar, dass sich diese Zonen alle auf der Sonnenseite der Limmat befinden und diese in den Schatten stellen. Es wird alles sehr durchsichtig: Stadtrat Odermatt (Hochbaudepartement) befürchtet, die Hochhausplanung könnte in ihrer Unsensibilität erkannt werden. Wenn unsere Stadt nicht enormen Schaden nehmen soll muss sie korrigiert werden. Noch in diesem Jahr wird sich am Limmatraum entscheiden, ob Städtebau in dieser Stadt überhaupt eine Chance hat.

Die Limmat noch nicht erkannt

An schönen Sonntagen drängen sich die Spaziergänger auf privatwegbreiten Couloirs entlang der Limmat. Teilweise ohne Geländer. Gegenüber reichen die Fassaden der Industriebauten ohne Durchgang direkt ins Wasser und werfen Schatten auf den Fluss. Die dunkle Wand im Gegenlicht nimmt dem Fluss den offenen Himmel – es gibt kein Glitzern des Wassers. Kümmert sich niemand um den Limmatraum? Auch 30 Jahre nach Aufhebung der Industriezonen nicht? Haben wir in Zürich keine Amtsstelle, die sich dem kleinen und mittleren Städtebau annimmt? Dem Teil des Städtebaus, der der Bevölkerung das Leben angenehm machen würde?

Das Nichterkennen des Themas «Limmat» liegt heutzutage leider in der Natur unserer Stadt – einem Ort, wo Städtebau seit langem nicht mehr vorkommt (die ETH unterrichtet ihn höchstens im Seitenwagen). Wir alle, einschliesslich der Presse, sind deshalb aus der Übung gekommen und können Defizite kaum mehr erfassen. Ganz im Gegensatz zur Architektur, die dank Wettbewerben (vor allem der öffentlichen Hand) auf einem erfreulichen Niveau gehalten wird. In Wachstumsperioden kommt jedoch Städtebau vor der Architektur: «Wie» soll die Stadt wachsen? Der Gemeinderat hat die Uferschutzinitiative abgelehnt und den viel zu schwachen Gegenvorschlag angenommen. «zuerivitruv» meint: Wir sollten uns den Limmatraum erobern bevor er – wie uns die Depôt-Türme vorzeigen – für immer zum Schattenkanal mutiert. 

Will die Limmat Industriekanal bleiben?

Um 1990 hob die Stadt Zürich ihre Industriezonen auf. Ganze Quadratkilometer von neuen Stadtteilen entstanden. Doch während 30 Jahren (!!!) wurde nicht erkannt, dass die Gebiete im Westen der Stadt auf grosse Strecken an die Limmat grenzen. Zum Vergleich: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die Stadt nach Süden ausgedehnt und 1887 mit prächtigen Quaianlagen den See umarmt. Ganz anders in unserer grossen Wachstumsphase: Das Potenzial am Wasser ist bis heute weder erkannt noch genutzt. Die Limmat ist noch immer weitgehend Industriekanal. 

In diese jahrzehntelange Gestaltungsschwäche hinein platzt nun die Behandlung der Uferschutzinitiative im Gemeinderat. Deren Initianten haben das Defizit an der Limmat erkannt und stadträumliche Vorstellungen eingebracht. So zum Beispiel die Idee eines offenen Horizonts über den Uferzonen. Statt das Thema «Limmat» zu erkennen, endete die Verhandlung in einem Links-Rechts-Hickhack. Links mit mehr Verständnis für den Limmatraum. «Sofort» kamen die Verteidiger von Hochhäusern aus dem Busch. Allen voran Stadtrat und Bauvorstand André Odermatt. Als ob die soeben am Wasser aufgerichteten Zementburgen des Tramdepôts Hard nicht Warnung genug wären. Im Unterschied zum 19. Jahrhundert wird verhindert, dass die Stadt mit dem Wachstum schöner wird. «zuerivitruv» meint: Die Zeit ist gekommen «das Oberstübchen neu zu vermessen». Das ist ein Spruch, den der frühere «Stadtwanderer» Benedikt Loderer für verkorkste Situationen verwendete.

Wie lange noch sollen an der Limmat Details und Gezänk dem Wohl unserer Stadt im Wege stehen?

„All Together Now“

Der Song-Titel der Beatles 1969 passt zur dringenden Aufgabe, auf den Paradigmenwechsel «Energie / CO2» eine Antwort zu geben. Hierzu ein wenig laterales Denken: Thomas Boyer, CEO der Krankenkasse «Groupe Mutuel», fordert Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider auf, die wichtigen Akteure in einer Task-Force zusammenzubringen. Grund ist die uns alle bedrängende Kostensteigerung im Gesundheitswesen. Nicht weniger ernst ist die Lage im Bau- und Planungswesen unter dem neuen Paradigma «Energie/CO2». Die P.S.-Zeitung bringt es auf Seite 15 in Nr. 3 vom 26. Januar 2024 aufs Tapet (siehe Internet). Auch hier wird vorgeschlagen, die Hürden in Zusammenarbeit zu nehmen – das heisst «ämterübergreifend». Aufgefordert ist der Gesamtstadtrat von Zürich.

Erster Ansatz müsste sein, ab jetzt keine Fehler mehr zu machen und die in Bezug auf Energie/CO2 ungünstigen Stadtstrukturen und Bauformen, wie Einfamilienhausteppiche und Hochhäuser aus dem Sortiment zu nehmen. Gleichzeitig ist aus den neuen Erkenntnissen der klimagerechte Städtebau für den Platz Zürich zu formulieren. Damit gehen wir in Richtung des bezahlbaren, verdichteten und stark durchgrünten urbanen Flachbaus mit 4-6 Etagen. Tiefwurzelnde Grossbäume sind Partner der Gebäude. Damit erhalten wir in unserem offenen Gletschertal eine ruhige Stadtsilhouette, die eine gute Durchlüftung erlaubt. Die Fallwinde können ins Pavé der Stadt vordringen. 

 «All Together Now»: dicht, klimagerecht, bezahlbar.

Kämpfe und Fronten in Zürich

Was im Fall Josefstrasse gut ist – das sei vorweggenommen – ist das Näherkommen an die Vernunft. Beim eternellen Charakter des Bauens ist das besonders wertvoll. Erst forderte die Politik hunderte von Wohnungen auf das städtische Projekt «draufzuhauen»: Hochhäuser auf bereits hohe Häuser mit völlig unrealistischen Ausnützungsziffern, weit über den bereits hohen am Ort geltenden. Nach viel Presse hat sich die Sache im Rat beruhigt, teils mit Rollentausch. Dabei ist die Wahrheit herausgekommen: «bei weitem zu dicht!», aber doch: «mehr Wohnen» sei zu prüfen. Glück oder gutes Funktionieren der Politik? «zuerivitruv» stellt mit grosser Befriedigung das zweite fest.

Wie früher berichtet, läuft die Sache im Niemandsland der Baslerstrasse etwas anders. Dort plant die HIAG ein sehr hohes Wohnhochhaus in herkömmlicher Siloform und die Halter AG ein kleineres zusammen mit einem zonenkonformen Wohnblock. Für beide gilt: eine städtebauliche Begründung für Hochhäuser gibt es an dieser Lage nicht. Damit fehlt ihnen die Legitimität. Inzwischen wurde in den Medien gefragt, ob es bei den Neubauten Belegungsvorschriften gebe, was die Halter AG verneint. Damit geschieht das Übliche: hohe Neubaumieten, die im Fall von Hochhäusern nochmals 20-40% höher ausfallen. Die Folge sind tiefe Belegungszahlen. Fazit: die Baudichte nimmt stark zu, die Personendichte kaum. Mit Hochhaus-Gentrifikationsprojekten ist der Wohnungsknappheit nicht beizukommen. Das Hochbaudepartement soll wissen, dass zusammen mit den nicht berechtigten Hochhäusern zu viel schief steht.

Strassenraum wieder ein Fest

Man kann an den Ohren herbeiziehen – das wird jetzt gemacht: Mit einem Sprung nach Paris und dann wieder zurück nach Rom. Nach den letzten theatralischen Gesten zum öffentlichen Strassenraum Roms musste «zuerivitruv» diese gekurvte Kulisse an der Rue Cambronne ins Auge fallen (Bild: petch77). Im Städtebau Europas hat die Sprache im Strassenraum immer eine Rolle gespielt; auch in Zürich. Die teilweise Überhandnahme durch das Automobil hat diese Rolle gemindert. Die Rückkehr zum vermehrten Leben am Ort und der Rückgang von künstlich erzeugtem Autoverkehr, lässt dem Gesicht des Hauses wieder mehr Bedeutung zukommen. 

In Paris zieht uns das «Immeuble pointu» in Bann: mit seiner einnehmenden Kurve, dem Fassadenaufriss nach Schema Haussmann (Erdgeschoss + Mezzanin; Wohngeschosse; Attikazone) und der kräftigen blauen Store des Blumenladens. Durch die Wiedereuropäisierung der Stadt können wir uns auf bessere Fassaden freuen. Fussgänger, Tram, Velo und die nötige Dichte für die «15 Minuten-Stadt» werden es ermöglichen. Das ist ab jetzt ein grosses Thema für unseren Stadtrat – in Paris ist die Stadtpräsidentin Anne Hidalgo schon länger unterwegs. Dass der Strassenraum eine europäische Sache ist, macht schon 1650 die Fassade des Oratorio dei Filippini in Rom vor; von Francesco Borromini (* Bissone Ti) erbaut. «zuerivitruv» meint: Der Strassenraum wird wieder zu einem Fest!

Ancora Palazzine

Die schönen Schirmpinien fehlen hier – wir sind selbst im Rom der Fünfzigerjahre noch nicht im Hitzestress. Zum Abschluss der Reihe römischer Palazzine führt «zuerivitruv» noch zwei Beispiele vor. Beide mit zeichenhafter Architektur – in diesem Fall mit Geste zur Strasse. Giorgio Calza Bini hat 1958 diese Palazzina (oben) entworfen. Die Geste ist so grossartig, dass sie «zuerivitruv» aus der Luft sofort erkannt hat. Die Geste ist nicht grundlos: das Gebäude blickt über die Viale America (immerhin) hinweg auf den Laghetto des Quartiers EUR im Süden von Rom. Die konkave Kulisse erhebt sich wie ein Hohlspiegel über einer zur Strasse hin vorgeschobenen Ladenfront.

Der unter Architekten berühmte Geheimtipp, die Palazzina «Il Girasole» von Luigi Moretti im Pincio-Quartier, erhebt gleich zwei Schilde zur Strasse: ein Halbhaus links und eines rechts – beide über einem rustikalen Steinsockel thronend. Die grosse Raffinesse besteht in der Asymmetrie der beiden Teile. Jeder schliesst mit einer Schräge nach oben ab. Zusammen ergeben sie eine gesprengte Giebelsilhouette. Hinter diesem vorgesetzten Gesicht flieht ein horizontaler Fensterschlitz in die Tiefe des Grundstücks.  

Bilder: Il Contafforte und @modern_rome_architecture

Mit Hilfe des Ingenieurs

Die Architekten Luccichenti e Monaco haben an der Via Archimede mit dem Ingenieur Riccardo Morandi gebaut – berühmt für seine kühnen Brückenkonstruktionen in Italien (Genua und Catanzaro) und Venezuela (Maracaibosee). Die Ingenieurkunst spiegelt sich in den übergrossen Spannweiten an beiden Enden der Palazzine. Davon profitieren die freien Grundrisse der dort angeordneten Wohnzimmer. Ein Flugdach wendet sich der Via Archimede zu. Der geknickte Grundriss ist zur Nebenstrasse hin aufgesprengt und wird dort für einen geräumigen Eingang genutzt. Wir sehen wie im letzten Posting auch hier die Gewandtheit, mit der die einzelnen Aspekte zu einem höheren Ganzen gefügt werden. Das darf man Baukultur nennen.

Schwenken wir die Kamera, entdecken wir auch in Zürich grosse «Ingenieurspannweiten» im Kollegiengebäude der Universität von Karl Moser. Ebenso bei den vermeintlichen Steinbrücken im Gebäudekomplex Urania und der Brücke der vier Löwen an der Sihl von Gustav Gull. Bei allen war der für seine Betonbrücken bekannte Schweizer Ingenieur Robert Maillart mit dem neuen Material dabei. 

Bild: ilcontafforte