Ein Ersatzbau im Quartierplan des vorletzten Jahrhunderts

Zwischen Gladbach- und Hochstrasse belegen zehn Mehrfamilienhäuser ein Strassengeviert. Alle um 1900 entstanden – ähnliche Baustile, doch jedes individuell. Ein paar Grossbäume machen nach über 100 Jahren über die Hochstrasse hinweg ein Portal. Eine der Längsseiten des Gevierts bietet der grossen Siriuswiese mit Tennisplatz eine gut sichtbare schöne Schauseite. Da haben wir wieder, wie im vorgängigen Posting, den Städtebau im Kleinen.

Die internationale Berliner Bauausstellung von 1987 hat die Wiedergeburt des Bautypus «Stadtvilla» gebracht. Davon angeregt ist hier ein Dreifamilienhaus auf der Gegenseite des Gevierts an der Hochstrasse entstanden. Ein Neubau der ein Einfamilienhaus ersetzt (unten links im Luftbild mit Dachterrassen). Die «Stadtvilla» 1987 im Berliner Tiergartenareal wurde als Gebäude mit individuellen Wohnungen bezeichnet. An der Hochstrasse kann man die zehn charaktervollen Altbauten als Stadtvillen bezeichnen. Von «Berlin» und der Nachbarschaft hat sich der Architekt mit seinem Dreifamilienhaus inspirieren lassen: im Erdgeschoss eine Wohnung mit bis an den Boden reichenden «French Windows». Und darüber nebeneinander zwei Maisonettes, die in den oberen Etagen Wohnen und Essen mit Seesicht verbinden. Die raffinierte Kompelxität ist hier eine andere als im letzten Posting. Doch das Zusammennehmen der Aspekte von «öffentlich» und «privat» veranschaulicht, wie Baukultur entstehen kann; und dass dies auch heute möglich ist.

Ostern

Wir schätzen schöne Quartiere – das soll Thema zu Ostern sein. In Zürich sind die neuen Quartiere (oft in Hanglagen) ab 1883 durch Pläne sehr schön angelegter Rampenstrassen definiert. Verfasser war Stadtingenieur Viktor Wenner, in Neapel aufgewachsen. Von diesem Gestaltungswillen sind auch die Gebäude erfasst. Sie reflektieren oft ihre Stellung in der Reihe der Hauszeile, oder an der Ecke einer Einmündung. Sie verhalten sich wie Menschen: die Geste resultiert aus der Stellung an der Bar, im Foyer der Oper oder im Versammlungssaal. Heute können wir nur staunen, wie geschickt sich Gebäude den Situationen im jeweils neuen Wohnquartier bemächtigt haben. «Freudvoll» würden wir sagen. Mit den Bildern fokussieren wir in Unterstrass auf die Scheuchzerstrasse. Bei der spitzwinkligen Einmündung der Turner- in die Scheuchzerstrasse hat die Stadt im Überbauungs- und Parzellenplan ein dreieckiges Pärklein mit ein paar Bäumen vorgegeben. Ein Doppelbau mit identischen Winkelhäusern definiert die Platzfront zwischen beiden Strassen. Das ist eine Komposition aus öffentlicher Anlage, der Starassen und der privaten Bebauung. Man könnte diese Kunst den «kleinen Städtebau» nennen. Bergseits macht ein kleiner Laden Sandwiches, was über Mittag für belegte Brote und Bänke sorgt.

Wissen wir wirklich, was wir tun?

Zählen wir die Etagen in den drei Bildern: Es sind von links nach rechts 17, 30 und 50. Zürich hat solche Hochhauszonen bereits heute. 13 Etagen in der 40 Meter-Zone und 26 in der 80 Meter-Zone. Nehmen wir das Thema der Anonymität des vorletzten Postings, so sind wir voll dabei. Hochhauszonen, zumindest diejenigen für Wohnzwecke, sind auf ewig angelegte Produzenten von menschlicher Anonymität und von nachteiligen Bedingungen für aufwachsende Kinder. 

Der damalige Stadtrat von Zürich ist der Initiant der geltenden Hochhausgebiete von 2001 und der heute noch amtierende Stadtrat der Initiant der neuen sich in Beratung befindlichen Hochhausrichtlinien. Auch ein Teil der Mitglieder des Gemeinderats ist in dieser Sache engagiert. Um zu wiederholen, was schon früher gesagt wurde: Neu vorgeschlagen sind 60 Meter-Zonen und ganze Quadratkilometer von neuen 40 Meter-Zonen in Zürichs Norden und Südwesten. Und wenn kein Einhalt geboten wird, wird einst eine 3.5 Kilometer lange «Dubai-Zone» für Türme ohne Höhenlimite im Zentrum/West von Zürich unser offenes Gletschertal dominieren. 

Die Bilder sollen veranschaulichen, was wir für Zürichs Zukunft «einkaufen» würden: Links liegt mit seinen 17 Etagen leicht über den 40 Meter-Zonen, die in den Quartieren Affoltern, Oerlikon, Seebach, Schwamendingen, Albisrieden und Altstetten grossflächig neu erschaffen werden sollen. Das mittlere Bild hat mit seinen 30 Etagen nicht ganz in den 80 Meter-Zonen platz und die 50 Etagen (150 Meter) im Bild rechts kommen in der zentralen «Dubai-Zone» spielend (und sogar mehrfach gestapelt) unter. Niemand scheint es zu glauben – vielleicht hat bis jetzt noch niemand nachgerechnet und nachgezählt.

Saint Michel

Haussmann pflügte die Boulevards – anfänglich eher schonend – vorwiegend entlang den ehemaligen Stadtmauern. Der Boulevard Saint-Michel gehört zu den Ausnahmen. Er ist der südliche Teil der Achse, die Paris von Nord nach Süd durchquert. Gerade über die Seine-Brücke kommend, beginnt er mit einem Paukenschlag – dem fünf Etagen hohen Brunnen an der Brandmauer des ersten Blocks am Boulevard. Der Held ist der heilige Michael, der den Drachen ersticht.

Der Platz ist heute mit Velopisten aktualisiert. Rechts das Bild von 1908. Zürich und Paris, beide Städte sind auf ähnlichem Weg. Die Megastadt Paris sieht das Motiv in der Reduktion der Abgase, aber auch im Gewinn von Lebensraum. Man bewegt sich in Richtung 1908. Der Stadtplaner Carlos Moreno ist der Erfinder des Konzepts der 15-Minutenstadt. Werden Strassenräume durch die dicht gestreute tägliche Versorgung vermehrt fussläufig, beruhigt sich die urbane Szene, indem der über mehr als ein Jahrhundert zum Teil künstlich hervorgerufene Fahrzeugverkehr zurückgeht. Das geschieht in Form einer gemächlichen Evolution durch die Kombination verschiedener Faktoren. Das braucht eine übergeordnete Philosophie – eine urbane Intelligenz, die die dutzenden von Faktoren in ein zeitgemässes Gleichgewicht bringt. Energie, CO2 und Klima sind dabei, aber auch die Aussicht auf ein schöneres und weniger gestresstes Leben in der Grossstadt. Paris hat es in seiner Geschichte oft verstanden, den öffentlichen Raum zu zelebrieren. Angefangen mit den Kiosken, den Litfasssäulen, Bänken, Bistrots etc. Stimmt die Idee, folgt die Praxis und irgendwann staunen die Besucher über die besser gewordene Lebensqualität. Die Stadt erreicht die Verbesserung übrigens mit geringen Baukosten.

Der Realitätstest

«Mehr als Wohnen» in Leutschenbach und auch die hier nochmals abgebildete Wohnsiedlung «Freilager» in Albisrieden haben – weil sie horizontal ausgerichtet sind – eine gut überschaubare Anzahl von Wohnungen pro Hauseingang. Die üblichen zwei Wohnungen auf einer Etage haltenen die Wohnungszahl pro Hauseingang in einem überschaubaren Rahmen: Alle kennen einander. Diese Zahl ist einer der zuverlässigsten Gradmesser für Anonymität. Alle Grosssiedlungen, die in die Höhe gehen, sind zwangsläufig von Anonymität betroffen. Sie ist neben der erst heute relevant gewordenen Energieverschwendung (im Bau und im jahrzehntelangen Betrieb) das grosse Problem.

Im Modell und auf den Renderings sehen diese Architekturschöpfungen oft sehr interessant aus. Doch das Leben zeigt rund um unsere Erde herum, dass einzig die gebaute Realität nach Jahren der Nutzung über den Erfolg eines Projekts entscheidet. Eine Gesellschaft, die baut, wird bei solchen Fehlern der Wohnsoziologie durch Schicksalsschläge gestraft. Und: eine Gesellschaft muss klug sein, wenn sie baut. Dass schon einmal weitherum gemachte Fehler sich nicht wiederholen, dafür muss wohl die Stadt (das Gemeinwesen) besorgt sein.

Wie wird die Bilanz der «Gleistürme» zwischen Hohlstrasse und dem Gleiskörper und den beiden Türmen über dem Tramdepôt Hard zwischen Autobahnzubringer und der Limmat in ein paar Jahren aussehen? Im Aussenraum ist bei letzterem der Schaden mit der Beschattung von Limmat und Wipkingerpark bereits eingetreten.

So kann das Neuland aussehen

Wir werden uns erst daran gewöhnen müssen. Die Forderungen sind da: Eine Welt kompatibel mit Energie/Klima/CO2. Auf die Soziologie hat man beim Wohnen nie besonders geschaut, könnte man jetzt aber hereinnehmen. Weil ein eiserner Bestandteil der neuen Philosophie «low rise / high density» ist, hat eine gute wohnsoziologische Konzeption eine bessere Chance als bisher mit «high rise». «low rise» ist ja bereits bodennah. Damit ist eine Voraussetzung für gutes Familienwohnen erfüllt. Mit Planungsgeschick gesellt sich dann noch «high density» dazu.

Können wir das schon irgendwo sehen? Da ist einmal die Siedlung «Mehr als Wohnen» in Leutschenbach. Dann die Bebauung «Freilager» in Albisrieden mit ihrer jüngsten Addition, erkennbar durch den «barn-red» gestrichenen Holzbau. Schon die ursprüngliche Etappe bestand zur Hälfte aus Holz und zur anderen Hälfte aus einer Aufstockung von ehemaligen Lagerhäusern um drei Etagen. Es fehlt nur noch der Stadtrat, der wie bisher neben «guten Bauten der Stadt Zürich» jetzt auch gute Bauten im Bereich Energie, Klima, CO2 mit Medaillen auszeichnet.

Das Ende von „breaking free“ (2. Teil)

Schon vor, aber auch während der Postmoderne begannen Misserfolge in den «Grands Ensembles» Abbrüche zu erzwingen. In Asien kam es zu einer verspäteten Moderne. China schob sich mit gigantischen «Stachelstädten» nach «vorne» – einschliesslich unserer Schwesterstadt Kunming.

Und heute?: 

Weltweite Fragen von Energie, Klima und CO2 treffen jetzt auf einen durchorganisierten Bauapparat, der durch Rationalisierung leistungsfähig und verschwenderisch geworden ist. Er liefert einen unheimlichen Output, der jetzt auf zunehmende Zweifel der Experten, der Bevölkerung und selbst der Besteller trifft. Sogar die global operierende gigantische Blackrock hat verlauten lassen, keine klimaschädlichen Bauinvestitionen mehr tätigen zu wollen. Versuchen wir, zu sehen, was das heissen könnte. 

Die energetisch verschwenderische «Stachelstadt der Hochhäuser» – auch unser neueres zürcher «Stoppelfeld» – hat als Baumodell ausgedient. Es braucht andere Modelle, die eher in der Verdichtung des Stadtgewebes zu finden sind und isolierte Türme ersetzen werden.

«zuerivitruv» hat diesen zweiteiligen Mini-Essay als Versuch verfasst, um in widersprüchlicher Zeit zur Orientierung beizutragen – in der Hoffnung, dass schwerwiegende bauliche Fehlleistungen ausbleiben können und unsinnig gewordene Planungen abgebrochen werden. Der Paradigmenwechsel (Änderung der Leitsätze) im Bereich Energie/Klima/CO2 verlangt einen anderen Städtebau. «Breaking free» ist beendet.

The process of breaking free (in zwei teilen)

Wir hatten 1939 eine freundliche Landi, dann sehr nette Fifties. Überhaupt war die Schweiz mit dem Flughafen Kloten als “friendliest Airport of the World” gut und sympathisch im Rennen. Die neue Dynamik und eine starke Technik erzeugten «Drive». Unter anderem sollte das altmodische Europa raschmöglichst autogängig werden. «Alles vom Armaturenbrett aus» – das war in den Sixties unser aller Brett vor dem Kopf.

Baulich hiess das: Ersetzen, abbrechen, alles Historische ist «alt» und vorbei. Es gab überall schöne Blüten der Nachkriegsmoderne. Statt Städtebau Parzelle um Parzelle entstanden «Grands Ensembles», in vielerlei Beziehung haltlose Architektenträume. Alles zeigte gegen «Manhattan» und fanden es fortschrittlich. Wer gegen Hochhaus und Abbruch war, wurde als altmodisch «gecancelt». Weil der Mensch dabei oft vergessen ging, meldeten sich die Soziologen. Zu lange blieb auch unbemerkt, dass Europa anders als «Amerika» die lange, reiche und wunderbare Geschichte opfern müsste. Der Zürcher Architekt Rolf Keller schrieb «Bauen als Umweltzerstörung» und brachte damit noch den Aspekt des respektlosen Eingriffs in Stadt und Landschaft ins Spiel. Dann näherte sich die Moderne dem weltweit verbreiteten Einheitsbrei und die Identitätskrise war da.

Als nächste Bewegung regte sich die Postmoderne. Das hiess: vergessene europäisch-historische Erinnerung einbauen und Herkunft markieren. Wie die Moderne fand auch die Postmoderne peinliche Nachahmer, die zu ihrer Zeit jeweils die Suppe verdarben. Die alles treibende «Mechanik» war die technische Machbarkeit. Die mutigen Helden agierten im Takt mit der sie abbildenden und weltweit verbreiteten Fachliteratur. Der zweite Teil folgt.