Der Realitätstest

«Mehr als Wohnen» in Leutschenbach und auch die hier nochmals abgebildete Wohnsiedlung «Freilager» in Albisrieden haben – weil sie horizontal ausgerichtet sind – eine gut überschaubare Anzahl von Wohnungen pro Hauseingang. Die üblichen zwei Wohnungen auf einer Etage haltenen die Wohnungszahl pro Hauseingang in einem überschaubaren Rahmen: Alle kennen einander. Diese Zahl ist einer der zuverlässigsten Gradmesser für Anonymität. Alle Grosssiedlungen, die in die Höhe gehen, sind zwangsläufig von Anonymität betroffen. Sie ist neben der erst heute relevant gewordenen Energieverschwendung (im Bau und im jahrzehntelangen Betrieb) das grosse Problem.

Im Modell und auf den Renderings sehen diese Architekturschöpfungen oft sehr interessant aus. Doch das Leben zeigt rund um unsere Erde herum, dass einzig die gebaute Realität nach Jahren der Nutzung über den Erfolg eines Projekts entscheidet. Eine Gesellschaft, die baut, wird bei solchen Fehlern der Wohnsoziologie durch Schicksalsschläge gestraft. Und: eine Gesellschaft muss klug sein, wenn sie baut. Dass schon einmal weitherum gemachte Fehler sich nicht wiederholen, dafür muss wohl die Stadt (das Gemeinwesen) besorgt sein.

Wie wird die Bilanz der «Gleistürme» zwischen Hohlstrasse und dem Gleiskörper und den beiden Türmen über dem Tramdepôt Hard zwischen Autobahnzubringer und der Limmat in ein paar Jahren aussehen? Im Aussenraum ist bei letzterem der Schaden mit der Beschattung von Limmat und Wipkingerpark bereits eingetreten.

So kann das Neuland aussehen

Wir werden uns erst daran gewöhnen müssen. Die Forderungen sind da: Eine Welt kompatibel mit Energie/Klima/CO2. Auf die Soziologie hat man beim Wohnen nie besonders geschaut, könnte man jetzt aber hereinnehmen. Weil ein eiserner Bestandteil der neuen Philosophie «low rise / high density» ist, hat eine gute wohnsoziologische Konzeption eine bessere Chance als bisher mit «high rise». «low rise» ist ja bereits bodennah. Damit ist eine Voraussetzung für gutes Familienwohnen erfüllt. Mit Planungsgeschick gesellt sich dann noch «high density» dazu.

Können wir das schon irgendwo sehen? Da ist einmal die Siedlung «Mehr als Wohnen» in Leutschenbach. Dann die Bebauung «Freilager» in Albisrieden mit ihrer jüngsten Addition, erkennbar durch den «barn-red» gestrichenen Holzbau. Schon die ursprüngliche Etappe bestand zur Hälfte aus Holz und zur anderen Hälfte aus einer Aufstockung von ehemaligen Lagerhäusern um drei Etagen. Es fehlt nur noch der Stadtrat, der wie bisher neben «guten Bauten der Stadt Zürich» jetzt auch gute Bauten im Bereich Energie, Klima, CO2 mit Medaillen auszeichnet.

Das Ende von „breaking free“ (2. Teil)

Schon vor, aber auch während der Postmoderne begannen Misserfolge in den «Grands Ensembles» Abbrüche zu erzwingen. In Asien kam es zu einer verspäteten Moderne. China schob sich mit gigantischen «Stachelstädten» nach «vorne» – einschliesslich unserer Schwesterstadt Kunming.

Und heute?: 

Weltweite Fragen von Energie, Klima und CO2 treffen jetzt auf einen durchorganisierten Bauapparat, der durch Rationalisierung leistungsfähig und verschwenderisch geworden ist. Er liefert einen unheimlichen Output, der jetzt auf zunehmende Zweifel der Experten, der Bevölkerung und selbst der Besteller trifft. Sogar die global operierende gigantische Blackrock hat verlauten lassen, keine klimaschädlichen Bauinvestitionen mehr tätigen zu wollen. Versuchen wir, zu sehen, was das heissen könnte. 

Die energetisch verschwenderische «Stachelstadt der Hochhäuser» – auch unser neueres zürcher «Stoppelfeld» – hat als Baumodell ausgedient. Es braucht andere Modelle, die eher in der Verdichtung des Stadtgewebes zu finden sind und isolierte Türme ersetzen werden.

«zuerivitruv» hat diesen zweiteiligen Mini-Essay als Versuch verfasst, um in widersprüchlicher Zeit zur Orientierung beizutragen – in der Hoffnung, dass schwerwiegende bauliche Fehlleistungen ausbleiben können und unsinnig gewordene Planungen abgebrochen werden. Der Paradigmenwechsel (Änderung der Leitsätze) im Bereich Energie/Klima/CO2 verlangt einen anderen Städtebau. «Breaking free» ist beendet.

The process of breaking free (in zwei teilen)

Wir hatten 1939 eine freundliche Landi, dann sehr nette Fifties. Überhaupt war die Schweiz mit dem Flughafen Kloten als “friendliest Airport of the World” gut und sympathisch im Rennen. Die neue Dynamik und eine starke Technik erzeugten «Drive». Unter anderem sollte das altmodische Europa raschmöglichst autogängig werden. «Alles vom Armaturenbrett aus» – das war in den Sixties unser aller Brett vor dem Kopf.

Baulich hiess das: Ersetzen, abbrechen, alles Historische ist «alt» und vorbei. Es gab überall schöne Blüten der Nachkriegsmoderne. Statt Städtebau Parzelle um Parzelle entstanden «Grands Ensembles», in vielerlei Beziehung haltlose Architektenträume. Alles zeigte gegen «Manhattan» und fanden es fortschrittlich. Wer gegen Hochhaus und Abbruch war, wurde als altmodisch «gecancelt». Weil der Mensch dabei oft vergessen ging, meldeten sich die Soziologen. Zu lange blieb auch unbemerkt, dass Europa anders als «Amerika» die lange, reiche und wunderbare Geschichte opfern müsste. Der Zürcher Architekt Rolf Keller schrieb «Bauen als Umweltzerstörung» und brachte damit noch den Aspekt des respektlosen Eingriffs in Stadt und Landschaft ins Spiel. Dann näherte sich die Moderne dem weltweit verbreiteten Einheitsbrei und die Identitätskrise war da.

Als nächste Bewegung regte sich die Postmoderne. Das hiess: vergessene europäisch-historische Erinnerung einbauen und Herkunft markieren. Wie die Moderne fand auch die Postmoderne peinliche Nachahmer, die zu ihrer Zeit jeweils die Suppe verdarben. Die alles treibende «Mechanik» war die technische Machbarkeit. Die mutigen Helden agierten im Takt mit der sie abbildenden und weltweit verbreiteten Fachliteratur. Der zweite Teil folgt.

Parzellenstädtebau oder Banlieue

Zur Banlieue gehört das lieblose Platzieren von durch ihre Grösse anonymen Wohnbauten. Der Mensch spürt es in der Seele, wenn die Behausungen nicht passen. Er spürt es, wenn er in Masse «bewältigt» wird. «Cité des Quatremille» in Paris, “Pruitt Igoe” in St. Louis, “Gropiusstadt” und das Quartier Marzahn in Berlin sind Container, die zu gross waren und die Bewohner zu Ameisen machten. Sie «waren», weil viele inzwischen abgebrochen werden mussten. Statt wenige und dadurch bekannte Mitbewohner am gemeinsamen Hauseingang sind es Hunderte, die man nicht mehr kennen kann. Portionierung macht Individualität, Masse macht Verzweiflung. Wo die Grenze ist lässt sich wissenschaftlich nicht genau festlegen.

Es wird immer und immer wieder von neuem vergessen, dass der ursprüngliche Parzellenstädtebau «von selbst» für die Portionierung der Bewohnerzahl sorgte. Das kann auch der Grund sein, warum Städte Gebiete zusammen mit dem Bau der Strassen parzellierten. «zuerivitruv» las in Paris auf einer der bekannten Informationstafeln an der Place Saint Georges am Hang von Montmartre «le quartier fu loti en 1851». Das heisst nichts anderes als «in Parzellen aufgeteilt» oder eben «parzelliert». Private konnten die Parzellen erwerben und ihre Häuser bauen – hier, wie wir sehen, mit Stolz. Auch die Bauherrschaften waren durch Kleinheit nicht anonym. Hier wird der menschliche Massstab spürbar. Ungeachtet der Schlüsse der Wissenschaft: «Es ist, wie es ist».

Gelingt das Fest auf Erden eher im kleinteilig parzellierten Quartier oder im

Grosscontainer? Das gibt «zuerivitruv» der Kommission des Gemeinderats zu bedenken, die jetzt gerade über den neuen Hochhausrichtlinien brütet, die Quadratkilometer von neuen Hochhausgebieten vorsehen. Besorgniserregend? 

In Zürich-Nord wächst eine Banlieue

Das Bild zeigt mehrere Phänomene. Da ist einmal der verschwindende Horizont – die Klötze verdecken ihn. Die Weite ist verloren; es gibt nur noch die Nahsicht. Unser Lebensraum wird eng. Wir leben plötzlich woanders, nicht mehr in Zürich, sondern als Ameisen im Dickicht irgendwelcher Hochhäuser wo auch immer auf dieser Erde. Das ist ein anderes Leben, das sich hier (ungefragt?) einnistet.

Im Vordergrund, wird mit der städtischen Wohnsiedlung Leutschenbach die humanere Version soeben fertiggestellt: eine Blockrandbebauung von hoher Dichte. Neu daran ist – und das hat im Architekturwettbewerb zum 1. Preis geführt – die Anordnung von Pavillons im geräumigen Innenhof. Diese mildern die (zu) grosse Geschosszahl und beherbergen Kindergärten und Gemeinschaftsräume. Hof und Pavillons bieten Raum in schöner Geborgenheit.

Das Bündel der solitären Türme im Hintergrund stapelt Bewohner in die Höhe und entreisst sie dem Zusammenhang ihrer Umgebung. Der nächste Turm – Bauherrschaft Swiss Re – wird sich bald dem SRF-Studio Leutschenbach und der vorbildlichen Siedlung «Mehr als Wohnen» aufdrängen. Die wertvollen Siedlungen ertrinken in anonymen Türmen. Man fragt sich: ist das die Zukunft, die wir wollten?

Kasernenareal wird endlich öffentlich

Man kann die Jahrzehnte gar nicht zählen, seit denen das Militär sich ins Reppischtal verabschiedet hat (1987). Es kamen völlig verschiedene Vorschläge für das frei werdende Kasernenareal, darunter einer für ein «prominentes Gefängnis», das über der Wiese auskragte! Bereits 1970 diente das Areal als Diplomthema für Architekten an der ETH. Der Streit zwischen Stadt und Kanton hatte diesen wertvollen Lebensraum für die Bevölkerung für weit mehr als eine Generation blockiert!

Was nach Durchführung eines Wettbewerbs resultiert, ist erfreulich bescheidene und reine Vernunft: Biodiversität, Hitzeminderung, Regenwassermanagement. Dazu kommt ein Bildungszentrum im martialischen Kasernengebäude und gemischte Nutzungen im wunderschönen Zeughaus mit seinem wohlproportionierten Innenhof. Dazwischen mehr Bäume auf der grossen Wiese. Man kann sich freuen, denn nach der Bäckeranlage und der Josefswiese werden weitere «Parkflocken» ins Stadtgewebe gestreut. Der Kompass dreht nach Jahrzehnten in Richtung «lebenswert». 

Weniger Glück hatte im letzten Jahr die Zukunft des Limmatraums. Eine Volksabstimmung hat dort auf dem falschen Ufer – woher die Sonne kommt – die 2001 ausgelegte Hochhauszone und den daraus resultierenden Schattenwurf zementiert. 

Visualisierung: Tom Schmid

Alles zusammensehen

Alle bewundern die Kapelle auf dem Hügel von Ronchamp in der Franche-Comté: Le Cobusier als genialer architektonischer Bildhauer nach dem 2. Weltkrieg. In diesen Zeilen soll alles zusammenkommen: Die ETH, die keine Ausbildung in Städtebau bietet, der berühmte Architekt, der (Bild) die städtebauliche Kompetenz seines Berufsstands infrage stellt und die heutige Gestalt von Zürich Nord und West.

Das Bild zeigt uns Wolkenkratzer des «Plan Voisin 1925» für in die Höhe gestapeltes Wohnen. Ohne jeglichen Bezug zur Umgebung. Einzig die Nabelschnur des Lifts verbindet mit der Welt, die für Strassen und Autobahnen im Grün leergeräumt ist. Der Laden, der Treffpunkt, der Auslauf für Kinder: Das alles für die Menschen Wesentliche gibt es nicht. Diese kalte Schrumpfform der Stadt hatte weltweit zu viel «Erfolg» und wurde schon im letzten Jahrhundert zum Teil wieder abgerissen. Ist es richtig, wenn der im nächsten Jahr zurücktretende Vorsteher des Hochbaudepartements jetzt noch versucht, mit der Erneuerung der Hochhausrichtlinien die fragwürdig gewordene Bauform sowohl in Höhe, als auch mit grossen Gebietsausweitungen zu pushen? Wir haben mit Marco Hüttenmoser die Soziologie des Wohnens intus (9. Februar 2025) und mit dem Forschungspapier über Energie / Klima / CO2 haben wir die ideale Stadtbauform der Zukunft kennengelernt (18. November 2014). Alles spricht für ein Stadtgewebe in «low rise / high density. Paris ist damit 4 mal so dicht wie Zürich. Für kluge Köpfe ist der Weg klar. 2026 sind Wahlen – muss es Zufall sein, dass wieder eine Person vom Kaliber von Emil Klöti gewählt wird? Nötig wäre es in der heutigen Konstellation von Boom & Paradigmenwechsel. Es braucht mehr als den Griff ins Parteiregal.