Kämpfe und Fronten in Zürich

Was im Fall Josefstrasse gut ist – das sei vorweggenommen – ist das Näherkommen an die Vernunft. Beim eternellen Charakter des Bauens ist das besonders wertvoll. Erst forderte die Politik hunderte von Wohnungen auf das städtische Projekt «draufzuhauen»: Hochhäuser auf bereits hohe Häuser mit völlig unrealistischen Ausnützungsziffern, weit über den bereits hohen am Ort geltenden. Nach viel Presse hat sich die Sache im Rat beruhigt, teils mit Rollentausch. Dabei ist die Wahrheit herausgekommen: «bei weitem zu dicht!», aber doch: «mehr Wohnen» sei zu prüfen. Glück oder gutes Funktionieren der Politik? «zuerivitruv» stellt mit grosser Befriedigung das zweite fest.

Wie früher berichtet, läuft die Sache im Niemandsland der Baslerstrasse etwas anders. Dort plant die HIAG ein sehr hohes Wohnhochhaus in herkömmlicher Siloform und die Halter AG ein kleineres zusammen mit einem zonenkonformen Wohnblock. Für beide gilt: eine städtebauliche Begründung für Hochhäuser gibt es an dieser Lage nicht. Damit fehlt ihnen die Legitimität. Inzwischen wurde in den Medien gefragt, ob es bei den Neubauten Belegungsvorschriften gebe, was die Halter AG verneint. Damit geschieht das Übliche: hohe Neubaumieten, die im Fall von Hochhäusern nochmals 20-40% höher ausfallen. Die Folge sind tiefe Belegungszahlen. Fazit: die Baudichte nimmt stark zu, die Personendichte kaum. Mit Hochhaus-Gentrifikationsprojekten ist der Wohnungsknappheit nicht beizukommen. Das Hochbaudepartement soll wissen, dass zusammen mit den nicht berechtigten Hochhäusern zu viel schief steht.

Strassenraum wieder ein Fest

Man kann an den Ohren herbeiziehen – das wird jetzt gemacht: Mit einem Sprung nach Paris und dann wieder zurück nach Rom. Nach den letzten theatralischen Gesten zum öffentlichen Strassenraum Roms musste «zuerivitruv» diese gekurvte Kulisse an der Rue Cambronne ins Auge fallen (Bild: petch77). Im Städtebau Europas hat die Sprache im Strassenraum immer eine Rolle gespielt; auch in Zürich. Die teilweise Überhandnahme durch das Automobil hat diese Rolle gemindert. Die Rückkehr zum vermehrten Leben am Ort und der Rückgang von künstlich erzeugtem Autoverkehr, lässt dem Gesicht des Hauses wieder mehr Bedeutung zukommen. 

In Paris zieht uns das «Immeuble pointu» in Bann: mit seiner einnehmenden Kurve, dem Fassadenaufriss nach Schema Haussmann (Erdgeschoss + Mezzanin; Wohngeschosse; Attikazone) und der kräftigen blauen Store des Blumenladens. Durch die Wiedereuropäisierung der Stadt können wir uns auf bessere Fassaden freuen. Fussgänger, Tram, Velo und die nötige Dichte für die «15 Minuten-Stadt» werden es ermöglichen. Das ist ab jetzt ein grosses Thema für unseren Stadtrat – in Paris ist die Stadtpräsidentin Anne Hidalgo schon länger unterwegs. Dass der Strassenraum eine europäische Sache ist, macht schon 1650 die Fassade des Oratorio dei Filippini in Rom vor; von Francesco Borromini (* Bissone Ti) erbaut. «zuerivitruv» meint: Der Strassenraum wird wieder zu einem Fest!

Ancora Palazzine

Die schönen Schirmpinien fehlen hier – wir sind selbst im Rom der Fünfzigerjahre noch nicht im Hitzestress. Zum Abschluss der Reihe römischer Palazzine führt «zuerivitruv» noch zwei Beispiele vor. Beide mit zeichenhafter Architektur – in diesem Fall mit Geste zur Strasse. Giorgio Calza Bini hat 1958 diese Palazzina (oben) entworfen. Die Geste ist so grossartig, dass sie «zuerivitruv» aus der Luft sofort erkannt hat. Die Geste ist nicht grundlos: das Gebäude blickt über die Viale America (immerhin) hinweg auf den Laghetto des Quartiers EUR im Süden von Rom. Die konkave Kulisse erhebt sich wie ein Hohlspiegel über einer zur Strasse hin vorgeschobenen Ladenfront.

Der unter Architekten berühmte Geheimtipp, die Palazzina «Il Girasole» von Luigi Moretti im Pincio-Quartier, erhebt gleich zwei Schilde zur Strasse: ein Halbhaus links und eines rechts – beide über einem rustikalen Steinsockel thronend. Die grosse Raffinesse besteht in der Asymmetrie der beiden Teile. Jeder schliesst mit einer Schräge nach oben ab. Zusammen ergeben sie eine gesprengte Giebelsilhouette. Hinter diesem vorgesetzten Gesicht flieht ein horizontaler Fensterschlitz in die Tiefe des Grundstücks.  

Bilder: Il Contafforte und @modern_rome_architecture

Mit Hilfe des Ingenieurs

Die Architekten Luccichenti e Monaco haben an der Via Archimede mit dem Ingenieur Riccardo Morandi gebaut – berühmt für seine kühnen Brückenkonstruktionen in Italien (Genua und Catanzaro) und Venezuela (Maracaibosee). Die Ingenieurkunst spiegelt sich in den übergrossen Spannweiten an beiden Enden der Palazzine. Davon profitieren die freien Grundrisse der dort angeordneten Wohnzimmer. Ein Flugdach wendet sich der Via Archimede zu. Der geknickte Grundriss ist zur Nebenstrasse hin aufgesprengt und wird dort für einen geräumigen Eingang genutzt. Wir sehen wie im letzten Posting auch hier die Gewandtheit, mit der die einzelnen Aspekte zu einem höheren Ganzen gefügt werden. Das darf man Baukultur nennen.

Schwenken wir die Kamera, entdecken wir auch in Zürich grosse «Ingenieurspannweiten» im Kollegiengebäude der Universität von Karl Moser. Ebenso bei den vermeintlichen Steinbrücken im Gebäudekomplex Urania und der Brücke der vier Löwen an der Sihl von Gustav Gull. Bei allen war der für seine Betonbrücken bekannte Schweizer Ingenieur Robert Maillart mit dem neuen Material dabei. 

Bild: ilcontafforte

Die Palazzina – wertvoller Baustein der Stadt

Die Palazzina im letzten Posting verlangt noch mehr Fotos um ihre Synthese aus Lage und Architektur zu veranschaulichen. Der Natursteinsockel erdet das Haus, darüber wird munter ausgekragt. Den Eingang muss man nicht suchen. Witziges Detail sind die dekorativ wirkenden Wasserspeier. Der Zürcher Architekt Ernst Gisel (sel.) soll einmal gesagt haben, eine Fassade sei mit bis zu 5 Themen interessant. Bei mehr werde es chaotisch, bei weniger könne es langweilig sein.

Alberto Carpiceci ist der Architekt der 1948 erbauten Palazzina. Schlagen wir die Brücke nach Zürich zu ähnlicher Zeit, begegnen wir 1954 die Siedlung «Hohenbühl» beim Kreuzplatz von den Architekten Haefeli Moser Steiger. Mit Baujahr 1936 waren die Doldertalhäuser von Alfred & Emil Roth und Marcel Breuer damals internationale Avantgarde. Für das heutige Zürich können wir aus der grossen Vielfalt lernen, welchen Reichtum, welche Dichte und welch menschenwürdiges Wohnen der urbane Flachbau (4-6 Etagen) begünstigt. Es lohnt sich, diese Art von Städtebau weiterhin zu pflegen und mit den heutigen Anforderungen (Energie / CO2) zu vermählen. Die Verträglichkeit mit dem Stadtbild ist sowohl in der Nachbarschaft als auch bezüglich der Stadtsilhouette gegeben. Die von «zuerivitruv» oft geäusserte Vorstellung eines lebenswerten und aus «Haus & Baum» bestehenden Stadtgewebes kommt in greifbare Nähe.

Links: modern_rome_architecture, Rechts: Stefano Nicita @ dovelarchitetturaitaliana

Lustvoll in der Kurve

In einer Kurve an einer Kreuzung gelegen, zelebriert diese Palazzina seine Position in Roms Stadtgewebe. Es sind die individuellen Farben der Etagen und die Pergola als Akzentuierung. Die genannten Elemente kommen in der Biegung und auch an den beiden Enden sehr schön zur Geltung. Die Farben zwischen den Rippen der Balkonuntersichten fehlen im Attikageschoss denn sie sind durch den Himmel ersetzt.

Wie beim Menschen gibt es Unten, Mitte und Oben: Der Natursteinsockel, die durchlaufenden Balkone und die krönende Pergola (siehe deren Schatten im Luftbild). Es lässt sich wieder wie im vorletzten Posting mit Palladio sagen: «ornamento alla città». Was gibt es Schöneres, als ein Quartier aus solchen lustvoll gemachten Bausteinen? Und: Hier in Rom zeigt sich das Potenzial des dichten urbanen Flachbaus (4-6 Etagen) im europäischen Stadtgewebe!

Bild: Stefano Nicita @ dovelarchitetturaitaliana 

Dramatische Einfügung ins Quartier

Schauen wir uns die «Palazzina» bezüglich seiner Integration im Quartier genauer an: Die parallel zueinander verlaufenden Via Lisbona und Viale di Villa Grazioli nehmen einen langen Quartierpark in ihre Mitte. Die Via Fratelli Ruspoli windet sich rechtwinklig dazu in eine Kurve. Das ist der Bauplatz der Palazzina, die schon im letzten Posting vorgekommen ist. Heute können wir nur staunen, mit welchem Talent in die Ecke «gefahren» wurde. Die geknickte Natursteinfassade folgt der «Ruspoli», die weissen Balkone richten sich auf den Park. Der Zusammenstoss in der Ecke ist dramatisiert und erhält in der Attikazone eine Aussentreppe mit Flugdach. 

Ginge es um Sprache, würde man dem Werk die Auszeichnung «eloquent» verleihen. Den Architekten Luccichenti & Monaco ist hier ein ganz grosser Wurf gelungen. Das alles erinnert uns wieder einmal an Andrea Palladio (1508-80), der sagte, ein Gebäude müsse «ornamento alla città» sein. Dabei wird bewusst, dass wir vom Städtebau zum kleineren Massstab der Architektur gewechselt haben. Eine gute europäische Stadt hält beide Massstäbe nebeneinander hoch. Zürich widmet sich mit der «Auszeichnung für gute Bauten» der Architektur. Der grosse Massstab des Städtebaus hingegen scheint seit längerem eingeschlafen zu sein. 

Urbaner Flachbau im Nachkriegsrom

Rom zelebriert gegenwärtig seinen verdichteten urbanen Flachbau (4-6 Etagen) der Fünfzigerjahre auf verschiedenen medialen Kanälen. Dank talentierten Architekten, Ingenieuren und engagierten Bauherrschaften war die Stadt nach dem Krieg gut unterwegs. Die weltberühmte antike Bausubstanz Roms verdeckte jedoch diese Respekt erheischenden Schöpfungen – jetzt kommen sie ans Tageslicht. 

Picken wir ein paar Bilder aus diesem Aufbruch der Moderne (das Edificio polifunzionale an der aurelianischen Mauer ist in anderem Zusammenhang am 30. Oktober 2023 bereits porträtiert worden). Die Bilder veranschaulichen die Liebe für Gestaltung und den Bezug zur Umgebung. Es handelt sich weitgehend um Parzellenstädtebau im vorhandenen Stadtgewebe. Die sehr schöne Produktion ist während einer Wachstumsphase entstanden. Die «Palazzine» sind inzwischen eingewachsen und nicht immer bestens unterhalten. 

Bilder von lundberg_samuel: Links Architekt Venturino Ventura, rechts Vincenzo Monaco & Amedeo Luccichenti