Bilanz 2024

Das Jahresende ruft nach Bilanz. «zuerivitruv» sieht sich in Zürich als ein Monitor des Städtebaus. Hier ein Überblick, was sich in unserem offenen Gletschertal abgespielt hat. Tatsächlich stossen wir auf Schicksalshaftes im grossen Massstab: Mit der Versenkung der Uferschutzinitiative ist der seit 30 Jahren planlos herumliegende Limmatraum weiterhin ohne städtebauliches Konzept – eine echte Tragödie. Amt, Presse und die Mehrheit der politischen Parteien haben kräftig dazu beigetragen. Dass dem UBS-Hochhaus eine doppelte Ausnützung zugeschanzt wurde, liess die Presse nicht zur Geltung kommen – der Koloss passierte die Abstimmung. Das könnte genügen um zu sagen, dass Städtebau zuerst auf einer anderen Ebene abgehandelt werden muss: In den Bauämtern, wo das Wissen vorhanden sein sollte, offenbar aber nicht ist, denn es fehlt ein Stadtbaumeister als Gewissen der Stadt.

Besser steht es um die sich in Beratung befindenden neuen Hochhausrichtlinien. Im Tagblatt und in den Blättern der Lokalinfo AG kamen ernsthafte Zweifel auf – vor allem gegenüber der Vergrösserung der bereits viel zu grossen Hochhauzonen um mehrere Quadratkilometer! Hier besteht Hoffnung. Für einen Durchbruch müsste in Zürich endlich ein Städtebau starten, der als Massstab die neuerdings weltweit geltenden Kriterien von Energie, Klima und CO2 zur Grundlage hat.

Über das ganze Jahr hinweg ist klar geworden, dass im Stadtbauwesen nur Persönlichkeiten etwas bewegen können. Anne Hidalgo legte in Paris die Quais der Seine frei und half, die Olympiade – erstmals in dieser Welt – in eine Stadt zu integrieren. In Barcelona hat Janet Sanz damit begonnen, jeweils neun Strassenblocks zu «Superilles» zusammenzufassen und damit vier interne Plätze der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen und in München sind erstmalige Hochhausattacken auf organisierten Widerstand der Bevölkerung gestossen.

Emil Klöti und die Stadt Zürich

«zuerivitruv» liest gegenwärtig die Biographie des Sozialdemokraten Emil Klöti, der ab 1910 dem Bauamt (Hochbau) vorstand und von 1928 bis 1942 als Stadtpräsident diente. Wer liest, stellt mit Erstaunen fest, dass sich dieser Mann gleichzeitig auf unterschiedlichsten Feldern des Bau- und Planungswesens einsetzte. In der damaligen Expansionsphase brachte das der Stadt enorme und bleibende Vorteile. Sein umsichtiges Konzipieren und geschicktes Verhandeln versetzt in Erstaunen. Ebenso die parallele Behandlung von gleichzeitig mehreren Fragen der Stadtentwicklung:  Vor grösseren Details bis zum internationalen Städtebauwettbewerb für Zürich. 

Es war ihm ein Anliegen, an einer schönen Stadt mit gesunden Wohnverhältnissen zu arbeiten. Zum Beispiel gelang es ihm in letzter Minute, den Waldrand am Zürichberg mit einem Streifen von Schrebergärten für die Aussicht auf Alpen, See und Stadt freizuhalten. Damit zelebriert er die einmalige Lage Zürichs im offenen Gletschertal. 

Urban Governance: Das Wachstum formen

Die gegenwärtig offenbar fehlende «urban Governance» in der Stadt Zürich und die Quaianlagen 1887 nehmen wir aus dem letzten Posting mit und machen letztere zum Gegenstand des ersteren. Vom ursprünglich sumpfigen Ufer bis zu den promenierenden Damen in den prächtigen Anlagen am See ist es ein grosser Schritt, der sich der «urban Governance» verdankt. Die Hoch- und Tiefgauvorstände aus dem Zürcher Stadtrat packte die Idee, der wachsenden Stadt den See zugänglich zu machen und ihn zu umarmen. Die führenden Persönlichkeiten mussten sich ergänzt und gegenseitig gesteigert haben. Im Vordergrund standen Stadtingenieur Arnold Bürkli und Stadtbaumeister Caspar Conrad Ulrich. Ihnen stellten sich – aus der Stadt! – Personen entgegen, die den «eiserenen Ring» der Bahnen um die Zürcher Bucht befürworteten. Die neue rechtsufrige Bahn sollte von Riesbach über die Limmat vor den Augen des Engequartiers im Bahnhof Enge auf die Gotthardbahn treffen. Mit grossem Engagement von Stadtrat und Bürgern setzte sich die Idee der Quaianlagen durch: «Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist» (Victor Hugo). Ohne den rechtzeitigen Einwurf der Idee würde Zürich hinter einer kesselnden Bahnlinie vegetieren.

Die neu generierte Küste schaffte Bauplätze: Vorzügliche Lagen für Wohnen, Hotels und die Tonhalle. Alles im Kontext von See und Alpenblick. Diese Aufwertung Zürichs während einer Wachstumsphase ist kaum zu überschätzen. Sie kann uns zur Frage verleiten, was wir heute – ebenfalls in einer Wachstumsphase – zur Lebensqualität der Stadt beitragen. Ob wir fähig sind, dem Wachstum gedanklich vorauszueilen um es zu formen und zur Blüte zu bringen. 

Auch einmal an die ganze Stadt denken

Gegen Ende Jahr darf der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, dass es bessert. Die gegenwärtige Behandlung der Revision der Hochhausrichtlinien bietet die Gelegenheit, nicht nur (seit 20 Jahren!) ans Hochhaus zu denken, sondern fortan auch an die Stadt als Ganzes. Das könnte die Antwort auf den Kommentar aus der Leserschaft sein «Wann kommt endlich Einsicht nach dem vertikalen Wursteln?»

Smarte Städte wie München oder Dresden haben Leitbilder. Da sich Städte meist entwickeln und wachsen, nicht schrumpfen, sind Leitbilder nötig, wenn Wachstum und Entwicklung Qualität zum Nutzen aller haben soll. «Alle» umfasst die ganze Bauzivilisation, Bevölkerung und Akteure. Dass sich heute vorwiegend «Reklamationen» breitmachen, zeugt von Defizit in der «urban Governance», wie es Prof. Alain Thierstein anlässlich der Präsentation des Konzepts zur Aufwertung der Pfingstweidstrasse äusserte.

Die Bilder aus der gloriosen Vergangenheit zeigen, wie Konzepte für die Stadt aussehen können. Das sind die Quaianlagen 1887, die Bahnhofstrasse und 1948 der Plan für die Gartenstadt Schwamendingen.

Vertikal oder horizontal?

Ein Kommentar zum letzten Posting: «Wann kommt endlich Einsicht nach dem vertikalen Wursteln?» Dieses kann nachgezeichnet werden. Anfänglich war es das nicht: Die ersten Hochhäuser der Stadt waren noch deren Stolz. Die Skeptischen spürten unbewusst europäische Werte in Gefahr. Nach dem Bau von mehreren Hochhäusern wurde die Unordnung für alle manifest. Deshalb kam es 1984 zu einer erfolgreichen Volksabstimmung über ein Hochhaus-Ausschlussgebiet in der Innenstadt. 2001 warfen die Stadtbehörden ausserhalb dieses Gebiets zu grosse Hochhausgebiete aus. Nach zwanzig Jahren herrscht wieder Chaos im Stadtbild.

Im Unterschied zu vielen europäischen Städten wurde nie gefragt, wo Hochhäuser zu gruppieren seien und ob die Fortsetzung der chaotischen Hochhaus-Streubauweise überhaupt noch sinnvoll sei. Auch jetzt nicht, wo hohe Bauten aus Gründen von Energie/Klima/CO2 ausser Betracht fallen müssten. 

Zur Besinnung im Advent: Paris setzt sich mit der Schönheit der Quartiere auseinander. «Die schönsten Quartiere von Paris» steht im Text des abgebildeten Postings, währenddem die Hochhäuser ausserhalb der Stadtgrenzen wachsen; vornehmlich in der Défense. Doch die Grundstruktur mit der Beherrschung des ganzen Ensembles durch die Arche de la Défense wird intakt bleiben. Paris befasst sich auf seinem Stadtgebiet gegenwärtig mit einer Aufwertung Quartier um Quartier.

In Zürich muss der Anstoss offenbar wie 1984 wieder von aussen kommen. In den letzten Dezembertagen stellen wir die Hoffnung auf die Beine, im neuen Jahr bessere Wege diskutieren zu können.

Synthesegedanken zur Stadt und ihrem Luftraum

Hier ein besinnlicher Gedanke zur Adventszeit: Der Luftraum über der Stadt bewegt täglich unser Gemüt. Jetzt drückend, prächtig im Herbst und heiter im hellen Laub des Frühlings. Die Mulde des offenen Gletschertals ist die darunter liegende Gegenform der Stadt. Hügelzüge und der See sind die täglich sichtbaren Geschenke. In zeitlicher Hinsicht erstreckt sich die Metamorphose des Stadtgemäldes vom kompakten ummauerten Stadtkörper des Mittelalters über die um die vorletzte Jahrhundertwende prächtig gesetzten baulichen Akzente (Haus Metropol etc.) verbunden mit dem Ausgreifen zum See durch Quaianlagen bis zum eingestreuten Stoppelfeld der Hochhäuser von heute. 

Aus der empfindsamen Volksseele heraus wenig verständlich sind diese um 2001 unbedarft über die halbe Stadt geworfenen Hochhausgebiete. Erstens viel zu gross und zweitens oft geradezu grotesk platziert: Die Tramdepôt-Hochhäuser üben jetzt ihr Zerstörungswerk auf alle Zeiten aus (Posting vom 30. September 2024).

Die Aufgabe der heute lebenden Generation ist es, sich mit diesem missglückten Erbe der jüngsten Zeit herumzuschlagen. Die Revision der Hochhausrichtlinien ist in Beratung. Der gegenwärtige noch vorherrschende Ton ist: «so tun wie wenn alles in Ordnung wäre» und noch schlimmer:  «im Missglückten verstärkt fortfahren». Nur kein schmerzvolles Aufwachen, nur keine tapfere Bilanz. Doch nur eine solche Einsicht erlaubt die Formulierung eines zeitgemässen Städtebaus in unserer einmaligen Topografie und in unserer Zeit mit den Anforderungen aus Verdichtung/Energie/Klima/CO2». Die Theorie zu Letzterem haben wir ja schon im Posting mit dem Pixelbild vom 18. November kennengelernt.

Die Stadt und ihr Luftraum

In Paris gilt die ungeschriebene Regel, dass Bauten, die den von Präfekt Haussmann definierten Höhenplafond «Gabarit de Paris» übersteigen, von öffentlichem Interesse sein müssen. Der Luftraum über der Stadt hat einen kulturellen Wert. Deshalb diese Regel im Gemälde der Stadt. Im unkritischen Amerikawahn des Nachkriegseuropas wollten alle ein bisschen «New York» sein. Alles verständlich in der damaligen Zeit. «Amerika» hat rund um den Globus den Lebensstil vorgegeben. Whisky verdrängte Cognac. Die Kühlschränke hiessen Frigidaire. Mancherorts wurden die Qualitäten, die europäische Städte ausmachen, übertönt. Das De Gaulle-Frankreich baute in Paris die schwarze Tour Montparnasse. Das zufällig gefundene Bild zeigt sie nebeneinander: den Eiffelturm als für die ganze Bürgerschaft (und die Welt) gültiges Wahrzeichen und den für die Allgemeinheit völlig unbedeutenden Bürobau. Nicht nur Wahrzeichen sondern auch andere für die Allgemeinheit bedeutende Bauten dürfen überragen: Der Grandpalais – grösster Ausstellungsbau der Welt – mit seinem gigantischen Glasdach und aus neuerer Zeit die Ausstellungsmaschine des Centre Pompidou. François Mitterrand reichte dann noch die Bibliothèque Nationale mit ihren vier Ecktürmen nach.

Könnte eine solche europäische Haltung auch die Stadtbehörde von Zürich dazu bewegen, von der Weiterführung ihres unästhetischen «Stoppelfelds» – dem Hochhauwildwuchs – abzusehen? Wie wir im Posting vom 18. November gesehen haben, sprechen mit Energie/KlimaCO2 noch weitere ebenso triftige und sehr gegenwärtige Gründe für die Aufgabe dieser Bauform.