CIAM adieu!

Werden wir im Thema des letzten Postings – CIAM und seine Funktionstrennung – einmal ganz konkret: Schauen wir doch, was alles in Paris (auch New York) ohne diese Trennung möglich ist (müsste der Rayon grösser sein, gibt es die Métro oder die Subway – bei uns VBZ und ZVV). 

Vor ein paar Jahren wollte «zuerivitruv» in Paris noch dickköpfig die Glaskuppel der Galeries Lafayette sehen, obwohl er «ennet» der Seine verabredet war. Entsprechend aufgeregt war er als er beim Herauskommen die Zeit sah. Nach Gefühl suchte er den Weg, geriet über die Place Vendôme und durch die Tuileriengärten, querte die Seine über die ingeniöse Passarelle «Solférino» (Ingenieur Marc Mimram) und stiess an leicht verschobener Stelle auf den Boulevard Saint Germain mit dem Café de Flore und der sensationellen Buchhhandlung L’Ecume des Pages. Die Uhr und die freundlichen Gesichter der dort wartenden Freunde sagten ihm, dass er pünktlich war. Dass 20 Minuten wider Erwarten für den Trajet genügten, lehrt uns, dass eine funktionsdurchmischte Stadt im Gebrauch nicht zu schlagen ist. All die durcheilten Orte hinterlassen innere Bilder. Paris ist eine Stadt, die trotz Kolossalität immer wieder durch örtliche Höhepunkte und Detailpflege überrascht. Ganze Welten sind in kurzer Zeit «erlaufbar». Ob gute Fussläufigkeit doch etwas mit Schönheit einer Stadt zu tun hat?

Neues Gleichgewicht nötig

Machen wir den zeitlichen Sichtwinkel einmal ganz weit: 1928, gegen Ende der Industrialisierung (mit Emissionen der Schwerindustrie), gründeten Architekten den Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM). Einer der philosophischen Punkte bestand in der Trennung von Wohnen, Arbeiten, Erholung, Verkehr. Die Reorganisation der Städte gemäss dieser Philosophie hat in der Folge die Pendlerströme erst erzeugt, unter denen die Zivilisationen heute ächzen. Der Flächenkonsum des Verkehrs zur Wiederverbindung der getrennten Funktionen wurde damals völlig unterschätzt. Das hat die dicht besiedelte Schweiz besonders getroffen. Seit dem bundesbernischen Verbot, weiter in die Landschaft hinaus zu bauen, gerät die CIAM-Philosophie plötzlich in direkten Konflikt mit der Schweizerischen Planungsgesetzgebung. 

Der Konflikt wird jetzt noch durch die Anforderungen bezüglich der Minimierung von Energie und CO2 akzentuiert. Wir wären alle unserer Stadtverwaltung dankbar, für die umfassende Wahrnehmung der Notwendigkeit, Bau und Planung neu zu organisieren. Jede Minute Warten lässt uns sinnlos in die falsch gewordene Richtung weiterbetonieren. Was alle schon wissen, ist, dass eine lokalere Organisation des Lebens Verkehr & Verkehrsflächen einspart und für die Verdichtung zur Verfügung stellen kann. Weil wir immer noch im CIAM stecken, merken wir nicht, dass Reserven vor der Tür stehen. Die Synthese aus Verdichtung und Umweltanforderungen ist in Griffweite.

Urban Spaghetti gegen Urban Fabric

Hier in Boston (Massachusetts) findet eine richtige Schlacht zwischen den beiden statt. In den USA wurden seit 90 Jahren grosse Teile der Stadtgewebe (Urban Fabric) zu Gunsten der Autobahnspaghetti (den Stadtautobahnen) gelöscht. Treffpunkte, Kinos, Läden an den High Streets gingen verloren. Nicht nur das, auch Stadtteile wurden voneinander getrennt. Um die Stadtsubstanz dem Auto zugänglich zu machen, musste sie sich erheblich verdünnen lassen. Dazu kamen an den Stadträndern die nur per Auto zugänglichen Shoppingcenter mit ihren riesigen Parkplätzen. Das Resultat: Verlust des Quartierlebens, Autozwang, Flächenverschwendung und aufheizbarer Beton an Stelle von Grün. Ein gewaltiger Stadtumbau erfasste das ganze Land. Und jetzt steht er quer in der Welt! 

Warum erzählt «zuerivitruv» die Geschichte? Wir können sehen, wie widerstandsfähig sich die europäischen Strukturen über die selbe Zeitspanne erwiesen haben. Oft hat gebaute Schönheit noch geholfen. Klug wäre gewesen, in der Schweiz Einkaufszentren zwischen Städten und Dörfern gar nicht entstehen zu lassen. Doch auch unsere Welt gehörte – bis hin zu den Verstopfungen im Glatttal – ganz dem begehrten und faszinierenden Auto. Mit den Fragen von Energie, und neu von CO2, stellt sich jetzt das falsch Gewachsene von selbst in Frage. Freuen wir uns darüber, dass die Stadtstruktur von Zürich weitgehend intakt geblieben ist und sich dadurch besser auf die Zukunft ausrichten lässt. Mit dem richtigen Bewusstsein hat Zürich – eher als seine Banlieue – eine faire Chance, den Rank zu finden. Das könnte uns ermuntern. Welche Parteien, welche Stadträte übernehmen den Lead?

MVDRV gewinnt in Emmen (LU)

Dieses innovative, intellektuelle und international orientierte niederländische Architekturbüro gewann in Emmen (LU) einen städtebaulichen Wettbewerb für das Gebiet Feldbreite. Im guten Sinn radikal erkannte das Büro die Situation und schlägt ein Konzept im typisch europäischen Parzellenstädtebau vor. Innerhalb einer Blockrandbebauung entsteht ein urbanes Geflecht von Gebäuden, Höfen und Gärten. Die Qualität des Vorschlags ist hoch, der Pokal geht an die veranstaltende Gemeinde und Senn BPM AG mit ihren Architekten MVRDV.

Wenn Dörfer (oder Stadtquartiere) zu Städten werden, ist plötzlich Städtebau angebracht. In der Schweiz ist das Potenzial dafür zur Zeit unendlich gross, doch zu selten gelingt der Übergang. Dann spricht man abschätzig von «Agglomeration». Hier nimmt eine Gemeinde das Heft in die Hand und formt ihr Stadtgewebe. Tragisch: eine engstirnige Einsprache von «Hindernisfrei Bauen Luzern» brachte das innovative Projekt zu Fall. Der Beitrag von MVRDV zur Verdichtungsfrage bleibt für die Schweiz wertvoll.

Verdichten

Wir wollen einmal versuchen, unvoreingenommen in die Physik des Verdichtens einzudringen: 

  • Dubai heisst «alles mit dem Auto» – riesige Flächen fürs Auto – darum müssen Dubais Burj Khalifa & Co. in die Höhe gehen. Türme, ferne Einfamilienhaussiedlungen, Einkaufszentren und Stadtautobahnen heisst das Menu. 
  • Europa heisst jedoch Dichte im Stadtgewebe, fussläufig in Breite und Höhe der Quartiere und der Gebäude.

Mit CO2 im Visier – ab jetzt das Hauptkriterium des Städtebaus – ist «low rise / high density» der einzig gangbare Pfad, der in die Zukunft führt. «Dubai» fällt mit seinen Maximalwerten für Energie und CO2 ausser Abschied und Traktanden.

«thetransitguy» aus den USA kämpft in seinem Land auf Instagram auf schöpferische Art. Dazu vergleicht er verschwenderische amerikanische Parkplatzvorschriften mit dem Kolosseum in Rom. Der rot umrandete Bereich bezeichnet die Parkierungsfläche, die für die Besucher des Kolosseums US-gesetzlich nötig wäre: 17-fach. Es ist gut, wenn wir an den Turnübungen von thetransitguy teilnehmen und unser Gefühl für Autoverkehr & Stadt daran schärfen. So bequem das Autofahren ist, es verzettelt die Stadt enorm. Es dünnt sie aus, verhindert Dichte und macht die Städte auf Kosten der Landschaft viel zu gross. Ohne Reduktion des Anteils des Autos an der Stadtfläche bleibt «Dubai-Dichte». Das gerät mit dem verdichteten urbanen Flachbau (4-6 Etagen) in Konflikt, der zur Erreichung der CO2-Minderung die geeignete Siedlungsform ist. Die Zeit ist gekommen, das Optimum bei uns in Europa konkret anzusteuern. Das müsste auch in Zürich ankommen.

Urban Fabric

Man kann eine Stadt bauen – das wäre dann im engeren Sinne «Städtebau». Und wenn die Stadt, wie Zürich schon da ist? Dann ist es Urbanism/Urbanisme – der Umgang mit der gebauten Stadt. «Urban Fabric» heisst im Englischen Stadtgewebe – durch weben entstandenes Tuch. Der Begriff öffnet den Blick dafür, dass zusammenhängendes Gewebe bearbeitet werden kann. «zuerivitruv» kennt den Begriff aus der Londoner Planungsgeschichte. 

Im Hang des Uetlibergs liessen die Zürcher Ziegeleien Lehm stechen. Es begann 1865 mit der «Mechanischen Backsteinfabrik»; 1974 endete die Ressource. Es folgte dere Bau der Wohnsiedlung «Tiergarten» mit 700 Wohnungen. Das Luftbild zeigt neues und lebenswertes Stadtgewebe mit schönen diversen Aussenräumen. 

Nicht weit davon entfernt entstand um 1990 die dichte Einfamilienhaussiedlung «Gehrenholzpark», die Teiche, Wasserläufe und Wohnhöfe zu einem vielfältigen Gewebe verbindet.

Stadtgewebe

Aus dem Fächer der «Envol-Skizze» im ersten Postings dieses Jahres greifen wir das für Zürich neue Thema des «Stadtgewebes» heraus. Google erlaubt uns endlos, europäische Städte diesbezüglich aus der Vogelschau zu betrachten. Es sei an die Postings vom März und April 2023 über die beeindruckenden Londoner Wohnquartiere Kensington, Notting Hill und Chelsea von Anfang des 19. Jahrhunderts erinnert. Hat eine Stadt solche Stufen erreicht, bleibt die Errungenschaft für immer. Städtebau kann deshalb darin bestehen, solche Stadtgewebe zu evozieren. Daraus erwächst die Rollenteilung von Stadt einerseits und privaten / genossenschaftlichen Bauherrschaften anderseits. Zürich hat in dieser Hinsicht in der Vergangenheit einiges geleistet, wenn wir an Hottingen, Unterstrass, Seebach und die Gartenstadt Schwamendingen denken. 

Wie wir am 18. und 20. Juli gesehen haben, tun sich Kopenhagen, Paris und vor allem Barcelona darin hervor, ihre Gewebe für heutige Bedürfnisse und klimatische/energetische Bedingungen zu transformieren. Quartiere werden lebenswerter gemacht und im gleichen Zug klimagerechter. Damit sind wir wieder bei ETH-Prof. Werner Jaray, der um 1965 seinen Architekturstudenten sagte, dass es ihre Aufgabe sei, das Ambiente des Menschen zu verbessern. Es geht nicht ums Haus allein, es geht um alles gleichzeitig. Das sind Glücksmomente, die nicht allen Regierungen gelingen. Heute sind sie weniger im Neubau als in der Transformation in den Quartieren zu suchen.

Die Ballone für 2024 steigen lassen

Wenig tätige, wenig lenkende «Schockstrarre» war das letzte Wort in der Skizze des Jahres 2023. Das Eingepferchtsein zwischen zunehmenden sich auch der Schweiz annähernden Klimafolgen, der zu oft schädliche Investorenwille infolge fehlender Statur und die Zersplitterung in Amtsstellen. Noch kein Stadt-Wille, der der neuen Situation im grossen Paradigmenwechsel gerecht wird. Beat Metzler hat die abhängende Stimmung im Tages-Anzeiger vom 3. Januar auf seine Weise beschrieben. Bezahlbare Wohnungen stehen auf dem ersten Platz. Die SP kämpft gegen ihren Bauvorstand André Odermatt. Die Baupolitik sei zu investorenfreundlich. Teure Hochhauswohnungen sind keine Antwort auf unser Wohnungsproblem. 

Wir könnten der Verwüstung des Stadtbilds Anfang «24» auch einmal mutig in die Augen sehen. Das bisherige Stoppelfeld, das niemandem wirklich gefällt, wird fast auf alle Ewigkeit an den schwachen Städtebau der letzten Jahrzehnte erinnern. Lassen wir es hinter uns.

«Envol» ist gefragt – Aufbruch. Sogar ein gebündelter Multi-Aufbruch, der etwa so aussehen könnte:

  • Das Amt für Städtebau zeigt uns auf wo Verdichtung möglich ist und wo nicht. Es lässt die Erneuerung der Hochhausrichtlinien fallen («keine Gehege mehr für schädliche Tiere im urbanen Zoo von Zürich»).
  • Mehr örtliche Verbesserungen im «kleinen Städtebau»: Rämistrasse/Kunsthaus, unter der Hardbrücke und im ganzen Limmatraum auch atmosphärische Qualitäten ins Wachstum einbauen.
  • Pflege eines wohnlichen Stadtgewebes an Stelle von isolierten Türmen. 
  • Klares Stadtbild: Offener Horizont in unserem grosszügigen Gletschertal – nur  Bauten von allgemeinem Interesse dürfen aus dem Gebäudehorizont ragen.
  • Städtebau entsprechend der gegenwärtig grossen Bauperiode grösser denken.
  • Jetzt das grosse Einlenken auf Energie / CO2 (Hochhäuser gehören nicht mehr zum Besteck) – und Formulierung des klimagerechten Städtebaus.

Eigentlich sehen wir es alle ähnlich: dem neuen Willen Gestalt geben.

Für die Stadtbelange freuen wir uns auf die Initiative des Stadtrats.

Mit dem Bild aus dem Grand Palais Paris 1914 wünscht «zuerivitruv» allseits ein gutes neues Jahr!