Next please!

An der Baugeschichte von Zürich wird weitergeschrieben. Altstetten scheint zum Opferquartier auserkoren zu sein. Schon der Standort des zuvor besprochenen Hochhauses auf dem Koch-Areal ist städtebaulich zufällig und gemäss Hochhausleitbild aus dem Jahr 2001 nicht zulässig. Das in der selben Woche ausgesteckte Hochhaus der HIAG – einer ursprünglich im Holzhandel tätigen Firma – steht ebenfalls «wie bestellt und nicht abgeholt» in der Cityscape von Zürich. Alle Hemmungen sind gefallen – die Maschine läuft, im chaotischen «Stoppelfeld» wird zügig weitergestrickt. Es ist sogar zu einer neuen Dreistigkeit gekommen: Von den 4 Ecken sind nur noch 3 in voller Höhe mit Profilen ausgesteckt. Der Laie meint, es werde eine Antenne gebaut. Wie das Bild auf der Bautafel zeigt, soll eine ganze Hochhauswand entstehen. Hier ähneln sich Koch» und «HIAG»: beide sind nicht schlanke Türme, sondern breite Scheibenhochhäuser. Sie werden die Sicht erheblich versperren und den Luftaustauch kräftig behindern. Die Verantwortungslosigkeit der Behörde wird sich sehr bald im Stadtbild festschreiben. Im Opferquartier Altstetten wird das Ameisendasein zwischen den Scheiben und Türmen zunehmend greifbar. 

85 Meter hoher Wohnungsstapel

Die Rede ist vom Koch-Areal. Ein Zitat des uns bereits bekannten dänischen Städtebauers Jan Gehl (mehrere Postings ab 8. Juni) aus der NZZ am Sonntag vom 18. September 2022: «Um das Leben in einer Stadt zu ersticken, gibt es keine effizienteren Mittel als Autos und Hochhäuser». «zuerivitruv» schreibt, weil sich in Zürich mit dem soeben ausgesteckten Hochhaus ein neuer Kandidat ankündigt. Das breite Scheibenhochhaus frisst sich in die Stadtsilhouette und stapelt Wohnungen bis auf 85 Meter Höhe. Das Bild ist vom erhöhten Standort Rigiplatz her horizontal über die Stadt hinweg aufgenommen. Bewegt man sich im grossen Pavé von Zürich, durchsticht das Scheibenhochhaus die Silhouette des Uetlibergs bei weitem. Mit dem immer noch andauernden Hochhaus-Galopp wird das Stadtbild von Zürich im Westen und Norden stetig zugemüllt, bis wir nicht mehr sehen, wo wir uns befinden: Vor lauter Türmen werden unsere Hügelzüge verschwinden. Was dann bleibt, ist nur noch der Nahbereich zwischen aufragenden Wänden. 

Der soziale Aspekt ist noch gravierender, besonders, weil das Hochhaus einer Genossenschaft «dient» und Familienwohnungen anbietet. Bereits im letzten Jahrhundert sind Wohnversuche mit Hochhäusern praktisch weltweit gescheitert.

Mit der Erwärmung der Städte kommt ein neuer Faktor hinzu: Die aus dem Gebäude- und Baumhorizont der Stadt aufragenden Bauvolumen nehmen die Sonneneinstrahlung ungehindert auf. Kommt noch dazu, dass alles, was sich aus dem Stadthorizont erhebt die Luftzirkulation behindert. Bleibt die Luftzirkulation im als schwachwindig bekannten Zürich aus, wird die gespeichert Wärme nicht mehr abgeführt.

Kinderfangnetze

«zuerivitruv» weilte nicht etwa in Wuhan, sondern besuchte übers Wochenende Zürich West und stellte fest, dass unter der Ägide von Stadtrat André Odermatt (SP) und seiner Stadtbaumeistein Katrin Gügler entlang dem Gleisfeld eine Art Stadtmauer – mitten in der Stadt – in grosse Höhen wächst.  Nach der Überbauung «Letzibach» und der städtischen Bebauung «Letzi» (Baubeginn soeben erfolgt) setzt die SBB die 80 Meter hohe Mauer mit zwei Türmen fort. Die Bewohner – es handelt sich nicht etwa um unempfindliche Bürotürme – haben im Süden direkt vor der Haustür Anteil an der vielbefahrenen Hohlstrasse und im Norden am 300 Meter breiten lärmigen und sommerheissen Gleisfeld. Es passiert hier das Gegenteil von dem, was der Leiter des Gartenbauamts bereits 1985 vorschlug: Ausgleichende Grünzonen beidseits der Geleise und entlang der Limmat.

Dieses Posting passt natürlich nicht in die laufende Reihe der durchgrünten Stadt im urbanen Flachbau. Es ist eine Kontrastveranstaltung, die zeigt, was es heisst, wenn 80 Meter hohe Wohntürme die Baum-Zone um das 5-fache überragen. Zur Sicherheit von allfälligen Kindern ist Wellblech zuständig und Fangnetze. Die grünen Netze, die die Bauarbeiter vor dem Herunterfallen schützen, werden dann die Eltern durch schönere Gewebe ersetzten. 

Odessa: Ausblick und Einblick

Wenn wir versuchen beides zusammenzusehen, wird uns klar, dass «Grün & Stein» hier ein Stadtgewebe bilden. Die Lichtverhältnisse in den Strassen sind angenehm und auch die Aufsicht: eine durchgrünte Stadt. Da unsere Landschaft im Schweizer Mittelland nicht mehr so grün ist, braucht der gegenwärtige Verdichtungswunsch das Grün auch in der Stadt. Odessa zeigt uns ein gleichmässiges Stadtgewebe aus Baum und Haus, sowohl in der Strasse, als auch in den Innenhöfen. Das bildet eine solide und lebenswerte Grundlage. Denken Sie nicht, dass das langweilig sei. Es gibt auch hier die besonderen Bauten, unter anderem das opulente Opernhaus. Auch die Fassaden sind unterschiedlich; da und dort meldet sich der Jugendstil. Ein Teil der Stadt berührt das Schwarze Meer à Niveau, ein anderer überragt die See auf einer Klippe.

Odessa erscheint uns gegenwärtig als Idealmodell und hilft uns bei der Vorstellung einer durchgrünten Stadt im urbanen Flachbau. Dieser Flachbau geht in Paris bis auf die bekannten haussmannschen fünf Etagen plus Attika; in Odessa weniger. Der Schritt zum modernen ökologischen Städtebau ist nicht mehr weit, denn die moderate Bauhöhe erlaubt Backstein, Holz und sogar Lehm. Die graue Energie ist niedrig. Künftige Veränderungen oder Teilabbrüche sind energetisch gesehen nicht tragisch. Was es neu zu denken gilt, ist die grosszügige Baumscheibe im Trottoir, welche zwingend nach oben offenen Naturboden aufweisen muss. Gute Städtebauer und Landschaftsarchitekten können das bewältigen. Wann kommt in Zürich der Startschuss? Wann legt die Stadt ihre Hochhausbesessenheit auf die Seite? Denn sie steht allen ökologischen Bestrebungen im Weg.

Spaziergang in Odessa

Nach dem Luftbild vom letzten Mal tauchen wir in die fremde Stadt ein. Gebäude und Bäume sind im Gleichgewicht. Die Höhenentwicklung ist ähnlich. Die Bäume bilden, wie wir es schon in Brooklyn gesehen haben, einen hallenartigen Raum, der zu den Fassaden hin halbtransparent ist. Schauen Sie, wie der Effekt nach hinten zunimmt. Hier darf gesagt werden, dass eine Stadt die Baumsorte auch nach Lichtdurchlässigkeit der Krone wählen kann: Ein 40-, oder ein 75- prozentiges Schattenbild. Die Kastanienallee  an der Stauffacherstrasse beim Bullingerplatz schafft sogar ein 100 prozentiges Schattenbild und die Kühle ist beeindruckend. Machen Sie einen Test. Gute Städte haben schon immer mit Bäumen gespielt. Denken Sie an die flirrenden Schatten in Südfrankreich: Nîmes, Digne, Aix en Provence. 

Wir sprechen in diesem Jahr aus Klimagründen plötzlich über Bäume in der Stadt. Darum wollen wir präzis sein: Der Baum konsumiert Wärme des Umfeldes um die Feuchtigkeit aus den tiefen Wurzeln zu verdunsten. Der Baum bringt uns zudem noch Sauerstoff durch die chemischen Vorgänge im Blatt unter Tageslicht.

Die ganze Sache mit dem Baum funktioniert nur, wenn er tief wurzeln kann und wenn er den Durchmesser seiner Krone ungestört auch im Erdreich findet. Dieser kreisförmige Bereich darf nicht durch Fahrzeuge verdichtet werden, denn die Wurzeln brauchen Luft. Das heisst, dass wir nicht einfach Aix en Provence imitieren können; der Baum ist ab jetzt in unserer Stadt neu zu denken. Dann kann er zur natürlichen Klimaanlage und zugleich zur ästhetischen Bereicherung werden. Etwa so sieht die sympathische Ästhetik des ökologischen Städtebaus aus.

Urbaner Flachbau in Odessa

Damit wir für die Darstellung des urbanen Flachbaus nicht immer Paris strapazieren müssen, werfen wir einen Blick auf Odessa, die ukrainische Hafenstadt am Schwarzen Meer. Das Luftbild zeigt uns dreidimensional, was unter einer «stark durchgrünten Stadt im verdichteten urbanen Flachbau» zu verstehen ist.

Die Durchgrünung gibt es in Odessa schon lange bevor der Baum in diesem Jahr auch bei uns zur rettenden Maxime aufgestiegen ist. Asphalt und Fassaden akkumulieren keine Wärme – die Strassen sind kühle Baumhallen, wie wir sie drei Postings zurück schon in Brooklyn (NY) erleben konnten. Mit der Blockrandbebauung ist die urbane Dichte gegeben. Baum und Haus sind etwa von gleicher Höhe und leben in einer Symbiose. Der Energiebezug in Form von grauer Energie ist für Bau, Renovation und – wenn nötig- sogar für einen Ersatzbau gering. Das Stadtgewebe ist flexibel und liegt in «low energy» entspannt in der Landschaft.  

Das sagt uns der Grand Palais

Sie sehen im Bild den schönen Naturstein von Paris, der sich bis auf eine gewisse Höhe hinauf entwickelt. Darüber ist alles Stahl und Glas. 1853 etablierte Haussmann in Paris seine Bauregeln mit einem Höhenplafond («le gabarit») von 5 Etagen plus 1 Attikageschoss. Fast 50 Jahre später wurde die immer noch grösste Ausstellungshalle der Welt – der Grand Palais – errichtet. Zu den haussmannschen Regeln gehört auch die Ausnahme: Wichtige Gebäude von allgemeinem Interesse dürfen sich über das Häusermeer und den Höhenplafonds massvoll erheben. Der Grand Palais tut es mit Manieren: Seine «Überhöhe» kommt – durch Kontrast kenntlich gemacht – in Stahl und Glas daher.

Vor dem Grand Palais beanspruchten die Bourse du Blé (heute Collection Pinault), viel später das Centre Pompidou und die neue Bibliothèque Nationale (François Mitterrand) dieses begründete Privileg. Das Resultat dieser städtebaulichen Disziplin ist das hervorragend lesbare Stadtbild von Paris.

Zur Zeit der grandiosen Quaianlagen 1887 und des Geschäftshauses Metropol am Stadthausquai – und für lange Zeit danach – hat das auch für Zürich gegolten. Jetzt schämen wir uns für das chaotische «Stoppelfeld» der wild wuchernden Hochhäuser in Zürich West und Nord. Ein Pfusch im Vergleich zu Paris.

Zuerivitruv macht die Handdrücke zum Thema

Es ist nicht das erste Mal, dass «zuerivitruv» an dieser Nahtstelle der Stadt eingreift. Weil breite Betonbrücken ebenfalls wertvollen Schatten generieren, sei es erlaubt, in der Reihe der Postings unter dem Thema «Haus & Baum» darüber zu sprechen. Schatten ist durch die Klimaerwärmung wertvoll geworden, ist also nichts mehr zum verschenken. 

«Unter der Hardbrücke» ist nicht irgendwo. Durch die Auflösung der ursprünglichen Industriezonen, den neuen Büro- und Wohnbauten und dem Bahnhof Hardbrücke ist dieser Strassenabschnitt unter der Brücke zum geographischen Zentrum eines neuen Stadtteils aufgestiegen. Hier müsste ein attraktives Zentrum sein wo man sich trifft. Die ungeschickte Verlegung einer neuen Tramlinie unter das grosszügige Dach, statt auf eine der beiden Seitenstrassen vergibt eine grosse Chance. Dass die Trams noch zwischen Plastik-Palisaden und Parkplätzen fahren, macht die Separation vollkommen. Das Dach, das verbinden könnte, wird zur Trennung. Mit der reinen Ingenieurlösung hat Zürich das «Kunststück» fertiggebracht, durch öffentlichen Verkehr einen Quartierschwerpunkt zu zerstören. 

Das Fest unter der Brücke der Métro Aérien in einem Arrondissement von Paris zeigt uns das Potenzial «unter der Brücke».