Das kontinentale Paris versus London

Der Passus «Absenz von Städtebau» in Zürich im letzten Posting war etwas kantig. Effektiv wurden im Jahr 2001 Streuzonen für Hochhäuser erlassen. Der Fehler, dass es Streuzonen waren, zeigt sich jetzt nach 20 Jahren gnadenlos im Stadtbild. Es ist als ob halb Zürich einen Ausschlag hätte. Die Beschränkung auf eine Zone stadtauswärts von Hardbrücke / Prime Tower hätte eine Art Quartier de la Défense von Zürich ergeben können – Altstetten oder sogar Schlieren wäre landschaftlich gesehen zwar besser gewesen. 

Wie Paris positiv und London negativ veranschaulichen, bilden sich die städtebaulichen Regeln direkt und gnadenlos im Stadtbild ab. Der britische Observer hat die beiden Städte verglichen: Der Kontinent will die gewachsene Stadt mit Anstand fortschreiben. Die Angelsachsen tendieren zu Disruption. Für England mit Geräusch, denn der heutige König Charles III hat seit langem und gut vernehmbar das chaotische Stoppelfeld Londons vorausgesagt und beklagt. Währenddessen «Amerika» mit Manhattan und dem Zentrum von Chicago von Disruption erst leben.

Die CO2-Keule wird den kontinentaleuropäischen Pfad bestärken und Zürich sollte sich städtebaulich soweit ertüchtigen um entscheiden zu können, ob auf die vorbereitete Revision des Hochhaus-Leitbilds verzichtet werden kann. Darin sind Quadratkilometer neuer Hochhausgebiete in Affoltern, Oerlikon, Seebach, Schwamendingen und Albisrieden vorgesehen. Dazu kommt eine 3.5 Kilometer lange Zone mit unbeschränkter Bauhöhe zwischen Limmat und den Geleisen. Die CO2-Logik lässt Hochhäuser nicht mehr zu, was die «Klimastadt Zürich» zu lebenswerten Stadtquartieren im verdichteten urbanen Flachbau bewegen müsste.

Architektur versus Städtebau

«zuerivitruv» meint nicht, dass wir jetzt wegen der Polykatoikia nach Athen reisen müssten. Athen ist ein Beispiel für grosse Dichte im urbanen Flachbau und vielmehr noch ein Beispiel für das Verhältnis von Städtebau und Architektur.

In Zürich ist das gründlich durcheinandergraten, denn gewisse überhohe Einzelbauten bringen die Würde des Städtebaus durcheinander. Gemeint ist der Hochhauswildwuchs und sein bedauernswertes Resultat: das hässliche «Stoppelfeld» inmitten von unserem offenen Gletschertal. Es stört die Weitsicht, das Stadtbild und die Nachbarschaft mit dem Zusammenleben. Die chaotische Wucherung ist so weit gediehen, dass jetzt die Architektur des Einzelbaus angesichts der Absenz von Städtebau unwichtig geworden ist. 

Schon der römische Vitruv stellte vor 2000 Jahren den Städtebau vor die Architektur. Sowohl in der zeitlichen Abfolge als auch in der Bedeutung. Es verhält sich ähnlich wie etwa Verfassung und Leben. Urbane Zivilisation heisst einen Modus Vivendi finden, damit es in einer Stadt lebenswert wird und das eine nicht dem anderen schadet – ein kunstvolles Gleichgewicht! Die CO2-Frage wird uns helfen, denn sie kann nicht mehr lange beiseite geschoben werden. Das Resultat wird unter vielem anderem der durchgrünte, verdichtete und urbane Flachbau (4-6 Etagen) sein. 

Die Polykatoikia von Athen

Der Newsletter «zuerivitruv» ist eher städtebaulastig. Warum soll der Athen bestimmende Bautypus thematisiert werden? Es besteht in Athen ein interessanter Zusammenhang zwischen Einzelhaus und Stadtgestalt. Das liegt an der «Polykatoikia». Ihre Geschichte: Um 1920 ging es darum, grosse griechische Bevölkerungsteile aus Kleinasien zu behausen. Le Corbusier hatte das «Système Domino», eine Stützenraster / Bodenplattenbauweise entwickelt, die die Fassade von ihrer bisherigen Tragfunktion entlastete und entsprechende Freiheit im Bereich zwischen Innen und Aussen erlaubte. Der Stützenraster ermöglicht, Wohnen, Büro, Geschäft ganz frei nach Bedarf einzulagern und zu kombinieren – eine wunderbare Flexibilität gegenüber den Ansprüchen des Lebens. Es ist auch klar, dass im heissen Klima Terrassen rundum laufen und Storen in den Strassenraum auskragen. Die Polykatoikia fällt durch Lebendigkeit auf.

Was ist die urbanistische Konzequenz dieses lebenstauglichen Bautypus? Ein Teppich entsteht, der sich über alle der sanften Hügel zieht und nach Bedarf Aussparungen zulässt: Für den Hausberg «Lykabettus», die Akropolis, Museen, Pärke etc. Alles in Allem resultiert ein angenehmes und schönes Stadtbild, das es erlaubt, die Topographie und die Bauten des öffentlichen Interesses sichtbar zu machen. Das «Stoppelfeld» der Zürcher Hochhäuser ist eine grobe Art des Überwachsens und der Verletzung von Stadtstruktur und Stadtbild. Damit rutscht Zürich in die Hässlichkeit ab. Das Bild ist so unbedarft, wie die Planung.

Nachhaltigkeit, CO2 & Kapitalanlage

Das Bild einzig dem Zweck, Tonangeber für dieses Posting zu sein. Es möchte darauf hinweisen, dass Klima, CO2 (inzwischen das oberste Umweltkriterium), etc. zusammenhängen und beginnen, noch mehr zusammenzuhängen. Kurz gesagt, Immobilienkonzerne die weiterhin auf Hochhäuser setzen, werden auf ihnen sitzen bleiben, denn es kommen jetzt – wie an der Börse – die gnadenlosen Ratings: Welcher Immobilienkonzern hat beim Gang in die Zukunft die grössten Klötze am Bein, welcher die kleinsten? 

Als Indiz für die aufgeworfene Frage verweist «zuerivitruv» auf die 4 Postings vom 10. Oktober 2023. In dem darin behandelten Forschungspapier wird abgehandelt, warum «low rise / high density» die Bauform der Zukunft ist und nicht mehr die Hochhäuser.

Warum beschäftigt sich unser Bauamt weiterhin intensiv mit Hochhausförderung und möchte sogar ein revidiertes Leitbild mit noch grösseren Gebieten auflegen? Wenn das Kapital reagiert, müsste es dann nicht schon längst unsere Stadtverwaltung getan haben?

Die Zürcher Städtebauschwäche

Ein weiterer Langzeitschaden, wie ihn die Tramdepôt-Türme Hard an der Limmat darstellen, darf nicht mehr vorkommen. Die Türme am Wasser machen aus dem Fluss eine Schlucht. Und da sie dazu noch auf der falschen Seite der Limmat stehen, überschatten sie das Gewässer und nehmen ihm sein Wesen: das Glitzern und den offenen Himmel. Auf diese Art kann es nicht gelingen, aus der Unwirtlichkeit des ehemaligen Industriequartiers auszubrechen und von der Limmat als «Industriekanal» (ohne jegliche Ufergestaltung) wegzukommen. Wie am Rheinfall (Posting vom 6. Oktober) wird mit den Tramdepôt-Türmen an einer verkehrten Welt gebaut: Die Mieter in den Türmen sehen auf den schönen Park (vgl. Rheinfall) hinunter, doch dessen Publikum ärgert sich über den Schatten und die dunkle gigantische Kulisse in der Blendung des Gegenlichts. 

Das städtebauliche Können Zürichs lässt zu wünschen übrig. Das war nicht immer der Fall, wenn wir z.B. an den andauernden Erfolg der prächtigen Quaianlagen von 1887 denken. Wasser, Sonne, Herbstlaub und die zurückgesetzte Gebäudekulisse von mässiger Höhenentwicklung bilden eine Synthese, die der Stadt etwas gibt. Auch in Zürich West, wo ehemalige Industriezonen neuen «zivilen» Nutzungen zugeführt werden, ist die selbe «Ufersorgfalt» wie am See angezeigt. Zürich scheint eine «Anne Hidalgo» (Bürgermeisterin von Paris) zu benötigen. Hidalgo übernahm die Zuständigkeit für Stadtentwicklung und Architektur, lancierte 2021 ein Manifest zur Verschönerung der Stadt und ist Präsidentin des «Atelier Parisien d’Urbanisme» und des «Pavillon de l’Arsenal» (permanentes Ausstellungsforum der Stadt Paris). Die Befreiung der Seineufer und künftig der Champs Elysées sind Werke von ihr.

Bonjour Tristesse

Als sich der Novemberhimmel doch noch öffnete, begab sich «zuerivitruv» an die «Riviera des Westens» – in den Wipkingerpark am Wasser. Er fand ihn im Schatten der städtischen Wohntürme, die jetzt gerade am gegenüberliegenden Limmatufer in den Himmel wachsen. Der Park ist im Jahr 2002 dem Publikum übergeben worden. Seine grosszügigen Stufen zum Fluss hinunter erstrecken sich über 180 Meter Länge. Ein Hartplatz für Basketball und Spielplatz mit bemerkenswertem Klettergarten ergänzt diese gelungene Uferanlage.

Zürich hat während seiner ersten grossen Bauperiode gegen Ende des 19. Jahrhunderts den See mit den geräumigen Quainanlagen zugänglich gemacht. Jetzt nimmt die Stadt dem noch jungen, in diesem Quartier notwendigen und beliebten Park mit der in der Sonne stehenden Hochhauskulisse der Reiz: schwarz im Gegenlicht. Zürich hat jetzt, wie New Yorks East Side, auch seine traurige Uferpartie.

Was ist in Zürich los? Warum fehlt der Blick fürs Ganze? Warum will die Verschönerung gleichzeitig mit dem Wachstum nicht gelingen? Es ist die bekannte Städtebauschwäche dieser Stadt, die um 1995 – noch vor Beginn unserer grossen Bauperiode – ihr Stadtplanungsamt abgeschafft hat. Zürich ist in grosser Fahrt und niemand scheint das urbanistische Lenkrad zu bedienen. 

Die Kiste auf dem Bahnhofplatz

Ein Leserbrief vom 13. November in der NZZ:

«Die sorgfältige Restaurierung und Renovation des Zürcher Hauptbahnhofs bringt diese städtebauliche Perle aus dem 19. Jahrhundert wieder voll zur Geltung. Umso beschämender steht jetzt dieser Riegel der unbedarften Tramstation vor dem Gesicht des Meisterwerks. Der livrierte Portier des Hotels Schweizerhof ist verdeckt. Gleich vier Glasfronten – 2 und 2 beidseits der Perrons – und die eingesetzten Reklamekästen verriegeln den Blick der Ankommenden auf die Stadt. Ist das der Zürcher Städtebau? Ist das unser Empfang der Bahngäste?

Das muss nicht so sein, denn eine der schönsten Tramstationen Europas steht in Zürich: am Bellevue. Sie ist zu allen Seiten offen und empfängt mit ihren ausladenden Dächern die Fahrgäste. Dieser Zweckbau ist sogar im palladianischen Sinn «ornamento alla città». Mein Vorschlag: sofort ein Architekturwettbewerb!»

Dem damaligen Stadtrat Ruedi Aeschbacher ist es zu verdanken, dass der oberirdische Zugang vom Hauptbahnhof zur Stadt vor Jahrzehnten möglich geworden ist. Darauf folgte ein Architekturwettbewerb für die prominente Tramstation: Den 1. Preis erzielte eine hundertprozentige Glaskonstruktion inklusive Stützen, der jedoch die Ablastung auf der Konstruktion des Shop-Ville nicht gelang. Resultiert hat der lange auf dem Platz liegende Kasten, der Verhindert, dass ein Platzgefühl aufkommen kann und dass alle alles sehen können. Zürich hat einen Schrank in die Mitte des Wohnzimmers gestellt.

Am Zürcher Hitzekanal

Wir schliessen mit der Europaallee ans letzte Posting an, denn sie ist Teil der Hochhauswand, die infolge von Gestaltungsplänen und Hochhauszonen gegen Westen wächst. Das Gleisfeld selbst ist dabei ein Streifen, der sich bis auf 300 Meter ausweitet: ohne Bäume und ohne Gewässer die grösste Hitzeinsel in Zürich. Heute erweist sich die Ausscheidung von Hochhauszonen auf beiden Seiten als ungünstig:  Aus der Hitzeinsel entsteht jetzt ein von Wänden eingeschlossener Hitze-Kanal! 

Wie letztes Jahr im Tages-Anzeiger zu lesen war, hat Peter Stünzi, der frühere Leiter des Gartenbauamtes (heute Grün Zürich), schon 1987 davor gewarnt, dass Zürich in ein Überhitzungsproblem gerate und forderte entlang den Geleisen grüne Ausgleichsflächen und Alleestrassen quer dazu. Vorausschauend hat er auf die Landreserven der SBB am Gleiskörper hingewiesen. Inzwischen ist nicht nur alles verbaut, auch der Hitzekanal zwischen den aufragenden Hochhäusern ist kräftig am wachsen. Die Bilder zeigen die Europaallee, die Hochhauswand an der Hohlstrasse und auf der gegenüberliegenden Seite das IBM-Gebäude mit den schwarzen Vulcano-Türmen. Wohlgemerkt, das Bauamt trägt mit der Vorgabe der Dimensionen die Verantwortung – die Investoren füllen sie lediglich aus.

Darf in Zürich auch einmal über Stadtästhetik gesprochen werden? Wer hat Freude an diesen «Wänden» und dahinter an den sich ausbereitenden «Stoppelfeldern» der Hochhaus-Streubauweise? Zürich hat um 1900 – ebenfalls während einer grossen Wachstumsperiode – mit Quaianlagen und neuen Quartieren gestalterisch zugelegt. «Wachsen & Gestalten» das ist die offene Frage unserer Wachstumsperiode.