Coquilles

2021 gab es mit Abstimmungen über Wohnsilos «Letzi» und die Richtpläne viel zu tun.

Letzi ist nochmals ein Wohnsilo mehr; der Richtplan Siedlung enthielt versteckte Hochhausförderung. Beides auf einem falschen, nicht zukunftsträchtigen Pfad. 

2022 – eine schöne Zahl – soll uns mehr Glück bringen. Da müssen wir aber noch einen grossen Brocken beiseite schaufeln. Es ist das revidierte Hochhausleitbild, das seit Ende 2021 unter dem Deckel gehalten wird. Im ’22 wird die Büchse der Pandora geöffnet. Soviel darf «zuerivitruv» verraten: Die Gebiete für Hochhäuser sollen erweitert und die Höhenbegrenzungen gelockert werden.

«zuerivitruv» dankt seiner aufmerksamen und grösser werdenden Leserschaft. Es sind an unserer Gegenwart in Zürich interessiert Einzelpersonen, aber auch die Politik und die Presse, die mitliest. Wir wollen eine bessere Stadt: Neues mit Qualität, nicht nur krudes Wachstum. Das will etwas heissen in einer Zeit des Paradigmenwechsels: grüner, sanfter, menschlicher, mehr europäische Qualitäten, weniger chinesische.

Im Bild wird unter der Métro Aérien von Paris festlich für Sylvester und Neujahr eingekauft. «Coquilles» (Muscheln) vorne rechts springt in die Augen. Das delikate Innere, aber auch die schützende Schale. Das verheisst Kampf und schönes Ziel.

„Markthal“ Rotterdam

Zentrale überdachte Markstrukturen in Rotterdam von Winy Maas / Architekturbüro MVRDV, 2014 fertiggestellt: Noch nie dagewesen ist diese Verbindung von Wohnen und Markt. Im 15. Jahrhundert entstand der berühmte gedeckte Basar von Istanbul. MVDRV hat die neue Form erfunden, die auch dem Wohnen einen Platz gibt. Die geniale Verdichtung im zentralen Bereich von Rotterdam verbindet beides und der Grossform gelingt es, ein Landmark zu werden, der seine öffentliche Bedeutung ausdrückt. 

Der Wurf zeigt: Im urbanen Flachbau ist alles, auch in dichter Form, möglich. Der menschliche Massstab ergibt sich aus dem Verzicht auf einsame, disruptive Überhöhe von selbst. Das macht die europäische Stadt aus: Alles hat Bezug zum Boden. Der bekannte dänische Architekt und Urbanist Jan Gehl sagte: wenn ein Architekt keine Idee hat, baut er ein Hochhaus.

Es geht gegen Ende des Jahres zu und «zuerivitruv» fragt frank & frei: Wäre das nicht auch eine Anregung für das schwärende Fussballproblem am Hardturm?

Lebensqualität im urbanen Flachbau

Im letzten Posting hatten wir ein Beispiel im urbanen Flachbau des Gebiets Ankerstrasse. Hier die Hang- und Aussichtslage am Friesenberg. Der Konstruktionsraster kann vieles aufnehmen, verschiedene Wohnungstypen und auch Reihenhäuser mit Garten. Die Anlage ist dicht und bietet viel Wohnqualität. Solange das Hochbaudepartement in dieser Hanglage keine Hochhäuser zulässt, gibt es noch Ausblick auf unsere Stadt. Der Friesenberg ist dabei das Gegenstück zum Zürich- und zum Hönggerberg. Das ist es eigentlich, was wir in unserem schönen und offenen Gletschertal vom lokalen Städtebau erwarten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Bilder: Siedlung Grünmatt 

Die Stadt ist ein lebhaftes Gewebe

Die europäische Stadt ist ein Gewebe, nicht ein Wildwuchs oder Zementhaufen, wie er gerade in Zürich West seit 2002 immer noch gebaut wird. Stadt ist Leben im Zusammenhang, Wohnungen mit Freiflächen dazwischen, Nachbarschaften und schliesslich Quartiere. Zum Beispiel in Zürich Seefeld, Hottingen, Albisrieden. Die guten Eigenschaften zuvor schon entstandener wertvoller Bausubstanz wurde in Zürich ab den Zwanzigerjahren in Bauzonen gefasst. In diesem Rahmen ist die Stadt zivilisiert weitergewachsen. Gehen Sie an den Hottinger-, Ida-, Haldenbach- oder Rigiplatz: Dann sehen Sie gutes Leben in den Stadtquartieren.

Alles mit intensivem Bodenbezug, nichts ist abgehoben, keine gestapelte Einsamkeit.

Das macht die gute Stadt in ganz Europa aus. Das ist nach den Irrläufen mit abgehobenen Wohnsilos wieder zeitgemäss, denn nur der urbane Flachbau ist ökologisch und energetisch zu rechtfertigen. Die soziale Tüchtigkeit – das Wichtigste – haben wir oben beschrieben. Es gilt, ab jetzt, zeitgemäss zu bauen, den Paradigmenwechsel (Veränderung der Leitsätze) zu vollziehen. Freuen wir uns auf ökologische Projekte im menschlichen Massstab und in stark durchgrünten Stadtquartieren.

Bild: Ankerstrasse – Umnutzung, Alt & Neu, Durchgrünung noch ungenügend.

Umnutzung in der Renaissance

Die Verwendung von Baumaterial und auch von Baustrukturen der Antike für Neubauten der Renaissance mutet aus heutiger Sicht im Sinne der Kreislaufwirtschaft fortschrittlich an. «Modern» kann man nicht mehr sagen, denn die Moderne hat mit viel Beton und Stahl, höchst energieintensiv, Neues geschaffen und vieles davon wieder abgebrochen und deponiert. 

Die Möglichkeit der Umnutzung bestehender Bausubstanz, die wir in den letzen Postings am Pfauen gesehen haben, ist bereits in der Renaissance/Barock angewendet worden. Carlo Fontana hat im Jahr 1696 eine Umwidmung des Kolosseums in Rom vorgeschlagen: «un sontuoso edificio sacro». Die Umwidmung hätte Umdeutung bedeutet: von einer Anlage der Belustigung durch grausame Spiele zu einer religiösen Gedenkstätte für die dortigen Opfer des frühen Christentums. Wäre Fontanas Plan realisiert worden, hätten wir seit 300 Jahren neues Leben statt der im Vergleich bescheidenen und depressiven Existenz der heutigen Ruine.  

Bei jeder Umnutzung stellt sich die Frage, wie gross, oder welcher Art die neue Identität sei. Hier wäre zweifellos ein Meisterwerk entstanden, mit grossem Echo in den Büchern der Kunstgeschichte. Genial, wie Fontana mit der elliptischen Arkade das Kolosseum anbindet und gleichzeitig einen Vorhof für die Kirche schafft!

Bild: Giacomo Pala

Umfeld „Chipperfield“

Chipperfield ist in der Gegenwart angekommen. Die Spuren der kruden Landung sind noch nicht verwischt. Am Platz, der immer noch ein Verkehrsplatz ist, schneidet einem ein grellweisses Band aus Natursteinplatten im Meer von dunklem Asphalt in die Augen. Heilung müsste unterwegs sein.

Etwas anders liegt der Fall an der Rämistrasse, der Zürcher Ringstrasse. Dort herrscht mit einer geschlossene Steinfassade und einem leeren Trottoir neu geschaffene Trostlosigkeit. Hier ist einzufügen, dass in Europa die Ringstrassen an Stelle der abgebrochenen Verteidigungsanlagen der Barockzeit errichtet wurden. Die berühmteste hat Wien. Die meisten sind mit Prachtbauten besetzt worden. Die ETH hat ihre Rolle mit ihrem Gebäude wahrgenommen und bereits vor 10 Jahren eine Baumreihe gepflanzt. Das Universitätsspital macht es anders: in strassenparallelen grünen Hecken sitzt der goldene Genesende. Wann wird das neue Kunsthaus «Chipperfield» ein würdiges Mitglied der Rämistrasse?  

Geniale Umnutzung am Pfauen

Dies ist ein Annex zum vorgängigen Posting über Kunsthaus und Pfauen. Zu sehen ist im unteren Bild der Mutterbau der Kantonsschulen des Kantons Zürich. Sie sehen das Flachdach, die verschiedenen Oberlichter und die grosse Freitreppe in Richtung Pfauen hinunter. Dass der Kanton die Mutterschule aufgegeben hat, befremdet ein wenig. Dass dieser hervorragende Bau von Institut zu Institut weitergegeben wird, hat zur Folge, dass er nicht mehr als «öffentlich» gelten kann. Die Genialität der im letzten Posting vorgestellten Idee lag darin, den prächtigen Bau mit Innenhof der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen und die grosszügigen Räume für die Erweiterung des Kunsthauses zur Verfügung zu stellen – ohne dabei den Park zu konsumieren. Das Flachdach hätte es erlaubt, grosse Oberlichtsäle einzurichten. Eine Etage allein hätte die Sammlung Bührle aufnehmen können. Die anderen Etagen hätten der Erweiterung der Sammlung des Kunsthauses dienen können und das Schulhaus Wolfbach der Sammlung Looser für Gegenwartskunst. 

Wir lernen aus dieser Geschichte, dass in der Stadt Zürich eine obere Ebene der Beurteilung willkommen wäre, an der sich die Einzelaktionen zu messen hätten. Beginnen wir im neuen Jahr doch mit der Förderung der oberen Ebene, denn über das Fehlen von Einzelaktionen können wir in der gegenwärtigen Bauperiode nicht klagen.  

Bild: hellozurich

Städtebau am Pfauen?

«zuerivitruv» könnte diesen Fall als «Idee für Zürich Nr. 2» bringen, doch datiert er über zehn Jahre zurück. Eine nichtgenanntwerdenwollende Person sagte dazumal: «Zürich ist eine Bankenstadt – Chipperfield baut ihnen jetzt einen Tresor».

Da gab es, besonders aus heutiger Sicht, eine bessere Idee. Sie kam etwas spät, denn der Gestaltungsplan für den «Mocken» im Stadtbild lag bereits vor. Doch die Idee war mit ihrer ökologischen Sanftheit und der städtebaulichen Klugheit ihrer Zeit voraus. Lassen wir die Bilder sprechen: links der heute gebaute Stand, rechts die damals vorgeschlagene Alternative.

Zürich hätte in Europa mit einem Stadtpark inmitten eines Museumskomplexes punkten können. Ein elektronisches Sammelbillett hätte die drei thematisch verschiedenen Museen erschlossen. Anstelle eines Neubaus wäre das Gebäide der Alten Kantonsschule und das Schulhaus Wolfbach Museumserweiterung geworden. Die Park-Mitte mit einer Gastronomie- und einer Eventhalle wäre öffentlich und geräumig gewesen. Jetzt ist die Mitte durch den Klotz besetzt und sagt «weg mit Euch». Dem Pfauen ist die Seele verloren gegangen. Nicht nur das: auch eine innerstädtische Perspektive vom Kunsthaus hinauf bis zur Alten Kantonsschule. Das ist immerhin der stolze Prachtbau des Zürcher Frühliberalismus, Freitreppe eingeschlossen. Gute europäische Städte offerieren zur Verbesserung des räumlich-visuellen Klimas ab und zu eine innere Perspektive. Denken wir dabei an Wien mit der befreienden Sicht zur Gloriette hinauf, oder an Rom mit der spanischen Treppe.