Die neue Weltvernunft

In Zeiten des weltweiten Paradigmenwechsels richten sich alle Augen auf die ersten Beispiele für das Bauen im Geist der neuen Weltvernunft. Bereits 2013 errichtete die Genossenschaft «gesewo» in Oberwinterthur die Siedlung «Giesserei» mit 150 Wohnungen in Holzbauweise. Eine Bibliothek liegt an der für alle zugänglichen Dachterrasse. Diese paar Worte zeigen, dass hier schon vieles stimmt (Bild links im letzten Posting). 

Im Jahr 2016 erfolgte der Bezug der Wohnungen im «Freilager» – einer Umnutzung, Aufstockung und Ergänzung des ehemaligen Ensembles des Zollfreilagers Zürich. Ein Teil der Bauten sind in Holz erstellt. Die selbe Zürcher Freilager AG errichtete 2022 das «Flurhaus» zu 100% in Holz auf einem angrenzenden Grundstück. Das in Barn-Red lasierte Holz ist sein Kennzeichen. Alle erwähnten Holzbauten sind Beispiele für den verdichteten urbanen Flachbau. Wir sehen: die Weltvernunft ist erstens möglich und hat zweitens schon vor Jahren begonnen. Beide Initiativen kommen von privater Seite. Mit dem Wunsch, die Hochhausrichtlinien neu aufzulegen, befindet sich das Bauamt noch in der alten Welt.

Altes Betongold gegen neue Weltvernunft

Das letzte Posting hat die offene Schere zwischen CO2-intensiven überkapitalisierten Baueingriffen und einer erforderlichen neuen Weltvernunft offengelegt. Um die Diskussion gleich zu beginnen: Wer sagt, dass Investoren an aus der Zeit gefallenen Mustern festhalten müssen? Blackrock, die vermutlich grösste Kapitalgesellschaft dieser Erde, liess letzthin Verschiedenes verlauten: a) die Gefahr, auf falscher Bausubstanz (nachteilige Umwelt- und Energiebewertung von Hochhäusern) sitzen zu blieben und b) die Milliardeninvestitionen, die in nächster Zeit in die «Green Technology» investiert werden. 

Verlassen wir die unheimliche Grösse und fokussieren wir auf die Schweiz. Auch unsere Grossimmos können einsichtig werden. Noch immer wird gegen die neue Weltvernunft geklotzt, werden isolierte und energieverschwendende Türme aufgerichtet. Diese Bauerei scheint einen Bremsweg wie ein Ozeandampfer zu haben.

Die Aufgabe der Gemeinwesen besteht in der Formulierung einer zeitgemäss-klimagerechten Bauphilosophie. Irgendwo muss der Denkplatz sein, aber auch die Aktion. Stadträte können zeigen, wie man Akteure für nützliche Beiträge gewinnt. Dazu braucht es das Talent, Verschiedenes zusammenzubringen.

Bilder: Giesserei Winterthur (Holzbauweise) und Zementbugen Zürich West

Auf dem Weg von Verschwendung zu „energiearm“

Das letzte Posting brachte zwei Beispiele, die mit ihrem Beitrag zur Stadt und ihrer Einsparung von grauer Energie schon früh auf dem richtigen Weg waren. Jan De Vylder & Inge Vinck (Belgien), Lacaton Vassal (Frankreich) und das Büro In-Situ (Schweiz) sind Architekturbüros, die sich mit der CO2-Frage ernsthaft auseinandersetzen (googeln Sie diese Namen!). An Stelle von Abbruch / Neubau erhalten sie gebaute Strukturen und transformieren sie. Das ist verantwortungsvolles CO2-Denken, wie es ab jetzt weltweit angesagt ist. Betonbrutalismus wird schwinden – sanfte Veränderung und Erweiterung des Bestehenden wird übernehmen. Die Pioniere sind da, deren Bauherrschaften natürlich eingeschlossen.

Auf der anderen Seite hören wir dauernd, wie immer noch nach «Placement» von möglichst viel Kapital gesucht wird und dazu sogar neuere Kolossalstrukturen (Beton) abgebrochen werden. Ein prominenter Fall von Vernichtung von grauer Energie im Grossmassstab ist der Brunaupark in Zürich-Wiedikon. Eine freiwillige Studie zeigte energiearme und bezahlbare Wege auf. Doch kam Ablehnung, weil mit dem schonenden Umgang zu wenig Kapital verbaut würde. Wir müssen hier festhalten, dass solche Überlegungen aus der Zeit gefallen sind. 

Wir befinden uns im Paradigmenwechsel (Energie/CO2) Der daraus hervorgehende wissenschaftliche Konsens, mit wenig oder ohne Abbruch zu verändern, ist längst da, doch die Praxis will noch nicht recht mitmachen. 

Bilder: Jan de Vylder & Inge Vinck, Barbara Buser (In-Situ) und Lacaton Vassal

Verdichtung

«zuerivitruv» kennt die Geschichten hinter den beiden originellen und gelungenen örtlichen Verdichtungen nicht. Doch ein Blick genügt: Da wurden nicht mehr gebrauchte Fabriken oder Manufakturen erkannt und deren Bausubstanz äusserst geschickt und schöpferisch umgebaut und wesentlich vergrössert. Das sind willkommene Bausteine in der Verdichtungsphase unserer Stadt. Die Resultate: schöner als bisher und dazu noch zehn mal interessanter als die meisten Neubauten.

Jan De Vylder, Professor an der ETH, nennt solche Fälle lieber «verändern» als «umbauen». Das wirft Licht auf unsere beiden Beispiele. Der Zugang (Approach) zur Aufgabe besteht nicht darin, den Gipser zu holen. Zuerst kommen Architekt und Bauherr mit einer Einschätzung. Vielleicht waren sie auf der Suche nach solcher Beute. In beiden Fällen zu einer schöpferischen Leistung gekommen, die begeistert. Zeitgemäss spart verändern gegenüber Abriss/Neubau viel graue Energie.

An der Rautistrasse wirkt das «rauti-huus» als Signal im Niemandsland. An der Limmat, im Visier der Ampèrebrücke, hat unsere Stadt einen Edelstein bekommen. Wir erinnern uns wieder einmal an Andrea Palladio (1508-80): ein Gebäude solle «ornamento alla Città» sein. Hier haben wir also eine Art von Verdichtung festgemacht, die der Stadt etwas gibt. Drei und vier Postings zurück finden wir im Gegensatz dazu die stadtverletzende Hau-Ruck-Verdichtung mit Hochhäusern, welche Graue- und Betriebsenergie verschwenden und Bewohner hors-sol stapeln.

Stadtbild: nur Wichtiges darf wichtig sein

Das gedankliche Turnen gelingt ausserhalb der eigenen Stadt besser, weil die Befangenheit kleiner ist. Paris sagt zum Eiffelturm ja und seit 1973 konstant nein zur Tour Montparnasse. Warum?: Es geht nicht, dass rein kommerzielle Büroflächen in den allen gemeinsamen Luftraum über der Stadt eindringen, die Übersicht beeinträchtigen und damit die Stadt klein machen. Der Status des Überragens des Häuserhorizonts muss verdient sein. Er wird zu einer Frage des Respekts vor dem über Generationen gewordenen Stadtbild gemacht. Das ist die Baukultur von Paris. Diese ungeschriebene kulturelle Regel erlaubt den Wandel im bestehenden urbanen Flachbau mit den für Haussmann typischen 5 Etagen plus Attika. 

Auch die bereits 1967 beschlossene Ausgliederung von Hochhäusern in die Défense hinaus wurde gestaltet. Alle wissen, dass der Kern der Défense – die Arche de la Défense – auf der Verlängerung der Champs Elysées liegt. Weniger bekannt ist, dass dort eine weitere Achse schneidet: die Fortsetzung des Champ de Mars mit dem Eiffelturm (Posting 16. August 2023). Stadtgestalt ist anstrengend und schafft Werte. Laissez Faire, wie in Zürich mit dem Hochhaus-Stoppelfeld, ist im Vergleich beschämend.

Der gegenwärtige Paradigmenwechsel aus Gründen von Energie und CO2 gibt der Planung und der Politik die Chance und die Aufgabe in die Hand, den Städtebau ausgehend vom Bestand neu zu formulieren. Was geschieht mit dem Gesichtsverlust der aus heutiger Sicht falsch gehandelt Habenden? Ganz einfach: Colpa CO2!

Groteske Omnipräsenz

Im Unterschied zum Mount Fuji – dem heiligen Berg Japans – sind die aus der Stadtsilhouette herausragenden Hochhäuser von Zürich weder Objekte der Verehrung, noch sind sie erfreulich in ihrer zufälligen Streuung in Form eines chaotischen Stoppelfelds. Hokusais «One hundred Views of Mount Fuji» zeigen die Sicht des heiligen Bergs aus verschiedenen Gegenden Japans. Erhebung muss etwas mit Bedeutung zu tun haben. 

Es ist die Eigenschaft von Hochhäusern, herauszustechen und von überall her sichtbar zu sein. Im offenen Gletschertal von Zürich sind sie Störung des Stadtbilds. Aus Störung kann nur dann Bedeutung werden, wenn das Objekt höheren Zwecken der Allgemeinheit dient. Erst dann wird Bedeutung und Gestalt kongruent. Sind es nur kommerzielle «Placements», gerät der Ruf der Stadt unweigerlich in Zweifel: Schaut denn niemand, keine Behörde, keine politische Instanz für das Stadtbild? Ist die Stadt geistig durchkommerzialisiert? Haben sich Kultur, eigene Geschichte und Eigenart der Stadt abgemeldet? Wollen wir, dass Mammon-Türme unser Stadtbild dominieren und Zürich einer asiatischen Schnellaufbaustadt gleicht? Wir müssten uns die Frage stellen, wie es überhaupt zu diesem Unglück gekommen ist. Soviel ist bekannt: Zürich fühlte sich Ende der Rezession der Neunzigerjahre so geschwächt, dass händeringend eine Medizin auf den Tisch musste. Es war die falsche. Heute sehen wir das chaotische Resultat. Und hier die Frage, warum im Übergang zum über Jahrzehnte anhaltenden Boom der Ausstieg aus der schädlichen Medizin verpasst wurde. Ein Redaktor nannte als Grund den amtlichen Baufilz: Festhalten an obsolet gewordenen Gewohnheiten trotz veränderten Umständen.

Ist Hochhaus-Wildwuchs legal?

«These ugly buildings are the ones that will be the most visible” sagt ein Kommentar zum letzten Posting, das vom Zürcher Hochhaus-Wildwuchs handelt. Es muss hier deutlich festgehalten werden, dass Hochhäuser gemäss geltenden Richtlinien einer städtebaulichen Begründung bedürfen, um eine Bewilligung zu erlangen. Fehlt diese, ist ein Hochhausprojekte illegal. Die beiden projektierten und das bereits gebaute Hochhaus «Basilisk» in Altstetten erfüllen diese Bedingung in keiner Weise, denn sie stehen in «the middle of nowhere». Es gibt keinen Grund diese belanglosen Stellen zu markieren. Die geltenden Hochhausrichtlinien sahen Hochhäuser als Ausnahme. Z.B. als begründete Akzente im Stadtgewebe von Zürich – doch keine Rede von unkontrolliertem Wildwuchs. Der erwähnte Kommentar beleuchtet den Aspekt der Stadtgestalt und kritisiert das wilde Herausragen von Wohnsilos aus dem Stadthorizont. Der horizontale und typisch europäische Häuserteppich wird durch herausragende «Stickel» verdorben und als Ganzes chaotisch und schliesslich unappetitlich. Wie die Tour Montparnasse in Paris schon 1973 zeigte, genügt ein einziger Fehltritt um ein Stadtbild zu verderben. Streicht der Blick über eine europäische Stadt, muss «Herausragendes» von Bedeutung für die Allgemeinheit sein. Tut es das nicht, entstehen Störgeräusche und die Stadt disqualifiziert sich selbst. Bleibt die Frage: Sieht das Hochbaudepartement Altstetten als illegales Opferquartier? Und: fühlt sich das Amt für Städtebau für die Stadtgestalt nicht verantwortlich?

Blindes Vollgas in Altstetten

Bisher beklagten wir, dass sich Hochhauswände entlang des zwei- bis dreihundert Meter breiten Gleisfeldes anlagern. Beides im Sommer «exzellente» Wärmespeicher und alles zusammen ein gigantischer Hitzekanal. Weiter südlich kommt jetzt die Baslerstrasse mit zwei Projekten in Fahrt. Wie der Tages-Anzeiger (Bild) kürzlich berichtete, sind zwei Hochhäuser von 60 und 80 Metern Höhe dabei, dazwischen zonenkonforme Wohnbauten mit einer Freifläche. 

Gemäss den geltenden Hochhausrichtlinien bedarf ein Hochhaus einer städtebaulichen Begründung und gilt als zu bewilligende Ausnahme. Wie wir alle feststellen, wird diese Bedingung seit langem in den Wind geschlagen. Das Hochbaudepartement nutzt ziemlich unverfroren den Umstand «wo kein Kläger, da kein Richter». Das ist auch der Grund für das chaotische Stadtbild, das Zürich zunehmend einer asiatischen Schnellaufbaustadt gleichen lässt. Hochhaus-Streubauweise führt nicht zu einer schönen Stadt, die der Bevölkerung Freude macht und Gäste beeindrucken könnte.  

Das Klima sagt, dass eine Stadt günstig ist, die Gebäude im Horizont von Grossbäumen hält. Das sind 4-6 Etagen. Paris erreicht mit seinem «Gabarit» (Höhenplafonds) von 5 Etagen plus Attika zusammen mit Barcelona die grösste Dichte in Europa. Das Bild hingegen zeigt, dass Zürich noch immer auf wehrlos der Sonne ausgesetzte Zementburgen setzt, die den Horizont von Grossbäumen bei weitem übersteigen. Stadtklima und Klimaziele adé.