2023 – was hat bewegt?

Das kann kaum eine Aufzählung werden – zuviel hat sich in diesem Jahr ereignet. Wir zupfen Punkte heraus. Die unkritische Hochhaus-Förderung durch die Bauämter wird im Stadtbild endgültig manifest. Die Bauherrschaften sind zunehmend «Grossimmos» auf Basis von Marktmiete. Die bevorzugte Form ist das 20-40% teurere Hochhaus. Das Ganze entspricht damit nicht dem Bedarf an «bezahlbaren» Unterkünften. Akteure und Opfer schälen sich heraus. Es geht nicht um Bauen und Nachbarschaft, sondern um Investition: Zürich als Playground für «Immobilien-Placements». Der in den Dezember-Postings erwähnte (liebevolle) «kleine Städtebau» in der Nachbarschaft fehlt.

Das Stadtbld leidet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Stadt im Wachstum an Statur. In der gegenwärtigen grossen Wachstumsperiode ist das Gegenteil der Fall. Das Hochhaus-Stoppelfeld tendiert gegen Chaos, breitet sich aus und dringt in die Quartiere ein. Das Stadtbild wird zum «Birchermüesli». Den grössten Schaden richten 2023 die Tramdepôt Hard-Türme gegenüber dem Wipkingerpark an der Limmat an. Dazu kommt die Besorgnis über die sich beidseits des Gleisfelds aufreihenden «Zementburgen» und den daraus hervorgehenden «Hitzekanal».

Zürich scheint den Puck nicht zu sehen und will mit der Erneuerung der Hochhausrichtlinien quadratkilometer grosse Zonen hinzufügen und sogar einen Teilbereich ohne Höhenbeschränkung einführen. Gefragt wären hingegen Gedanken und Konzepte für den klimagerechten verdichteten urbanen Flachbau. Wir haben ein Jahr hinter uns, das weltweit durch brutale Auswirkungen des Klimawandels auffiel. Wir haben alle das Forschungspapier «Decoupling tallness from density … » gelesen (4 Postings zuerivitruv vom 10. Oktober). Es stellt CO2 als Kriterium in den Vordergrund und sieht als einzig noch vertretbare Bauweise «high density / low rise». Medien, Stadtrat und Gemeinderat haben das Papier erhalten. «zuerivitruv» hofft auf die Auflösung der Schockstarre und dankt ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit im vergangenen Jahr.

Der Röntgenplatz mutiert

Im beginnenden Eisenbahnzeitalter entstanden erste Strukturen, die ins flache Sihlfeld ausgriffen. Nach Ersatz eines steilen Bahndammes durch die ausholende und deshalb flachere Grosskurve des Aussersihlerviadukts (heute Gleisbögen mit eingebauten Läden) wurde ein Strahl des heute sechsarmigen Röntgenlatzes frei. Um die vorletzte Jahrhundertwende liebten es die Ingenieure, möglichst viele Strassen in einem Punkte sich kreuzen zu lassen. Fern von südlichen Raumerfahrungen nannten sie diese später neuralgischen Verkehrs-Knoten «Plätze». Der Rigiplatz soll hier als weiteres Beispiel angeführt sein. Nach verschiedenen Stufen des sozialen Abstiegs, verursacht durch reinen Durchgangsverkehr, nahmen sich energische Bürger der Situation an und im Zusammenwirken mit den Bauämtern entstand der in der Mitte verkehrsfreie Röntgenplatz mit Regenpavillon und anderen Annehmlichkeiten für den Aufenthalt der Bewohnerschaft. Stichstrassen und Strassenschleifen machen die Häuser (Läden, Handwerksbetriebe) für das Auto zugänglich. Doch den zerstörerischen Durchgangsverkehr gibt es nicht mehr. Man kann das die Schaffung von urbanem Lebensraum nennen – vitale Punkte, die ausstrahlen.

Die Mutation gelang auch hier durch den Anstoss aus dem Quartier. Periodisches Bauen gehört zum Leben der Stadt. Im Unterschied zum Haldenbachplatz stellt der Röntgenplatz eine grössere Operation dar. Das könnte man den «mittleren Städtebau» nennen. 

Unser aller Aufenthalt

Unser Aufenthalt auf Erden dauert 50-100 Jahre. Zum grössten Teil in der Wohnung, dann im Quartier, dann am Arbeitsplatz und auf Reisen. Das Quartier und im Weiteren die Stadt ist also nicht zu unterschätzen. Noch vor der Jahrtausendwende stieg «zuerivitruv» in Genua an der Station Bringnole aus und bewegte sich in schönen Gebäudearkaden dem Zentrum zu. Gegenüber erblickte er in einem Torbogen unendlich viele Gladiolen, begab sich hin und stand in einem grossen Hinterhof inmitten eines Blumenmarktes. Ihm wurde klar: Das ist Europa! Wie auch immer die baulichen Gegebenheiten, man kann sich in der Stadt einrichten. In der Schweiz lesen wir dann in Magazinen, wo wir uns in fremden Städten hinbegeben sollen. Wir dürfen nicht vergessen, auch unsere eigenen «Musts» zu pflegen und zu erschaffen. Die Quadratkilometer neuer Stadtquartiere, die in Zürich aus der Aufhebung der Industriezonen entstanden sind, bieten Gelegenheiten. Dazu würden auch die bisher eher ab- als aufgewerteten Limmatufer von Zürich West gehören.

Es bleibt noch, am Haldenbachplatz den Bogen zu schliessen. Wir haben die Entstehung der zündenden Idee zur Schaffung von Lebensraum im Quartier erlebt. Dann den Zufall des Zusammentreffens von Persönlichkeiten aus Amt, Architektur und Quartier, der den Platzraum entstehen liess: talseits offen für die Novembersonne, bergseits mit acht Grossbäumen für sommerlichen Schatten. Diese Konstellation – es brauchte etwas Geduld – und «La Fontana», Comestible und Bistro und das Restaurant Haldenbach haben sich angelagert. Dazu kamen Coiffeur und Blumen. Wir haben gesehen, wie die europäische Stadt im kleinen auch in Zürich funktionieren kann.

Stadt lebenswert machen

Weil der «kleine Städtebau» die Stadt lebenswert macht, lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie es zu den vorgängig beschriebenen und vielen weiteren Werken – darunter auch der Röntgenplatz – kommen konnte. Das Thema hat in Paris den Namen «Embellissement du Quartier», wie wir aus dem Posting vom 1. Dezember 2023 wissen. Die Erklärung für die vorerwähnten Zürcher Fälle: Es ist das von einem Stadtrat gepflegte Bewusstsein, das alles in Richtung Aufwertung des Lebensraumes anzog und dann die Realisierung ermöglichte. Wer eine Idee hatte, war willkommen.  Der Stadtrat Ruedi Aeschbacher selbst war der Empfänger. Es wurden dazu keine speziellen Strukturen geschaffen. Stadtplanungs- und Tiefbauamt setzten die Ideen um. Man freute sich über die Erweiterung Arbeitsfeldes. Das offene Ohr und der gute Wille haben genügt. Das ist schon fast ein Vorgang, wie er in der Kunst zum gelungenen Werk führt: das Aufschaukeln der guten Kräfte. Und tatsächlich: es gibt in der Literatur den Begriff Stadtbaukunst (please google!).

Es ist das Verdienst Aeschbachers, die Stadt als Lebensraum wiederentdeckt zu haben. Die Pflege des Quartiers musste damals in Konflikt mit dem vieles bedrängenden Autorausch kommen. Das Stadtleben hat begonnen neben dem Verkehr seine Position wieder zurückzuerobern. 

Die oft vergleichenden und manchmal anspruchsvollen Betrachtungen von «zuerivitruv» sind immer auf das Ziel einer schönen, angenehmen und lebenswerten Stadt ausgerichtet.

Rückgrat im Quartier Stärken

Über Jahrzehnte ist die Hochstrasse zwischen den Quartierzentren Vorderberg/Kirche Fluntern und Rigiplatz lebenswerter geworden. Das Potenzial dazu wurde wie am Haldenbachplatz in der Quartierstudie Fluntern & Oberstrass entdeckt. Die Strasse stammt mit ihrem natürlichen Verlauf noch der «Dörflizeit» und schlängelt sich entlang einer Geländekante. Daher ihr Name. Der abgebildete Plan illustriert das Potenzial der Nutzungen und Freiräume und stellt es ins Spannungsfeld zwischen den beiden Quartierzentren. Im Zug von Kanalisationssanierungen wurden Trottoirs breiter, Fahrbahnen schmaler. Das bewirkte das Aufblühen des Quartierlebens durch vermehrte Nutzung von Fussgängerflächen durch Eltern, Kinder und Jugendliche. Für sie alle ist inzwischen ein Quartierforum hinzugekommen. Auch Hunden und Katzen geht es besser; es ist erstaunlich, was 1 Meter mehr Trottoir ausmachen – ab einer gewissen Breite können Kinder spielen und Kreidebilder auf den Asphalt malen. Durch gelassene Begegnung resultiert mehr Freude am gemeinsamen Aussenraum.

Auf der parallel verlaufenden Gladbachstrasse wird noch genug gefahren – auf der Hochstrasse ist jetzt die Bewohnerschaft König. Das ist die Bilanz von mehreren Jahrzehnten Evolution, die ohne den anfänglichen Zwick nicht in Gang gekommen wäre. Der «kleine Städtebau» macht die Stadt lebenswert und könnte Gleiches in allen Quartieren von Zürich bewirken.

Ein Fall von kleinem Städtebau

Im letzten Posting haben wir die Wichtigkeit von Brennpunkten im Stadtgewebe erkannt. Gutes europäische Gewebe hat viele davon, ob zufällig entstanden, oder geplant. Hans Marti, der prominente Planer der Schweiz im letzten Jahrhundert, lancierte unter Kollegen des Zürcher Ingenieur- und Architektenvereins Quartierstudien. Der mit Fluntern und Oberstrass betraute Verfasser schlug «Wohninseln» vor und darin die Förderung von Zentren und Subzentren der Quartiere. Die Idee: Versorgung und Begegnung dort wo man lebt. Man muss sich diese Idee in Zeiten der Quartierflucht über den Zürichberg ins Glattzentrum vorstellen! Er suchte – wie ein Quartierdoktor – geeignete Stellen. Sehen Sie dazu seinen Plan. Der Vorschlag des Verfassers löste die Aufwertung des kleinen vom Verschwinden bedrohten Ladenstandorts und die Verkehrsberuhigung in einem Zug. Die Anwohner und ein Gemeinderat verhalfen der Idee des kleinen Quartierplatzes zum Durchbruch. Die Schliessung eines Strassenabschnitts ermöglichten Baumdach und Quartiersofa. Bild oben rechts im letzten Posting.

Es kommt nichts von selbst. Es braucht eine Art «Quartierdoktor», der sich mit dem Stadtgewebe befasst. In diesem Fall von ausserhalb der Verwaltung, wie beschrieben. Mit dem Haldenbachplatz gebar ein grosses Konzept über zwei Stadtquartiere das das Kleine. Als schöne Konsequenz der Pflege des Ortes möge dieser Flyer des jährlich stattfindenden Haldenbach-Fests gelten.

Der kleine Städtebau: „Wo ist es *schön*?“

Gegen das Jahresende lockern sich die Gedanken und wir sehen vermehrt, was schön ist und wollen diese Grundpfeiler unserer europäischen Zivilisation feiern. Vergessen wir die vier letzten Postings, deren Bilder es nie auf eine von Zürichs Postkarten schaffen würden. Besinnen wir uns lieber darauf, wo es uns gefällt. 

Wir machen jetzt ein Experiment und überfliegen die kommenden paar Zeilen mit dem geistigen Finger, träumen den urbanen Items entlang und beobachten, wo es funkt:

Stadelhoferplatz, Hohe Promenade, die Quais am See, Bürkliplatz, Polyterrasse, Rigiplatz, Neumarkt, Bellevue, neue Fischerstube, Bullingerplatz, unterer Letten, Idaplatz, Gleisbögen, Josefswiese.

Und wenn wir uns fragen, wo «Wohnen&Leben» Spass machen würde, käme sicher neben dem Ida- auch der Hottingerplatz samt Umgebung heraus. Es ist nicht das Einzelhaus – es ist die Baugruppe mit dem zugehörigen öffentlichen Raum, die das Stadtleben interessant machen. Es bräuchte einen Begriff für diese Keimzelle der guten europäischen Stadt, wo Wohnen, Läden, Schulen, Vegetation ein beglückendes Gewebe bilden.

Müssten wir nicht mehr an die bewusste Pflege dies urbanen Gewebes denken? Das scheint uns etwas verloren gegangen zu sein. Könnte man was fehlt «den kleinen Städtebau» nennen? Gegenwärtig hat sich das kalte «klonken» der Bauinvestitionen zu stark in den Vordergrund gedrängt. «zuerivitruv» setzt deshalb auf die Einführung des «kleinen Städtebaus» in Zürich.

Limmatuferpolitik

Diese Uferkeule die die Depôt Hard-Hochhäuser der Limmat versetzen, müssten aufschrecken. Sie machen es noch schwieriger, diese Ufer endlich in einer freundlicheren Art zu gestalten. Ein Stück in die falsche Richtung ist jetzt auf alle Zeiten betoniert worden. Das ist städtebauliche Tragik mitten in Zürich! Sprechen Sie mit Ihren Gemeinderätinnen und- Räten, denn diese sind am Drücker. Sie heissen gut oder lehnen ab, wenn im Januar oder Februar das neue Hochhausleitbild in die Kommission des Gemeinderats kommt. Verlangen Sie die Sistierung aller Hochhausleitbilder- und Zonen. Sowohl die bisherigen wie auch die geplanten. Verlangen Sie, dass stattdessen (endlich) die Formulierung eines zeitgemässen klimagerechten und sozialen Städtebaus für Zürich vorgelegt wird. 

Bilder: Der offene Himmel über den neu gestalteten Uferzonen in Paris und der verdorbene Wipkingerpark in Zürich