Natürliche Vielfalt ohne Styling

Das Rauti-Huus, ein schon über 10 Jahre altes gebautes Beispiel. Es kombiniert die bisherige Büro- und Gewerbenutzung mit Dach-Maisonettes. Dabei ist mit dem neuen Wohnen in das oberste der Bürogeschosse eingegriffen worden. Die Gleichung lautet: 1 Etage Büronutzung weniger und 3 Wohnetagen mehr. Eine Rue Intérieure erschliesst die 17 Wohnungen. 

Was auch immer die baugesetzlichen Umstände zulassen – findige Architekten können immer interessante Lösungen anbieten. Für die ganze Stadt gesehen kann daraus eine natürliche Vielfalt ohne gesuchtes Styling entstehen. Hier das Projekt von Spillmann Echsle Architekten. Wenn die Aufstockungsinitiative «1 Geschoss mehr» bietet, ist das immer eine Aufgabe für talentierte Architekten. Im Guten kann Aufstockung ein gestalterischer Beitrag für die Stadt sein – Verdichtung ist es in jedem Fall.

Gehversuche mit der Aufstockung

Die Aufstockungen des «Widder» im Zürcher Rennwegquartier – zu welcher Zeit sie auch immer erfolgten – haben wir im vorletzten Posting kennen gelernt. Nach der Formulierung von Einschränkungen im letzten Posting wollen wir ein wenig Phänomenologie (Erscheinungsformen) betreiben. Zwei Extrempositionen sollen es in diesem Posting sein. Die geglückte frische Unbekümmertheit an der Ampèrestrasse am nördlichen Limmatufer und eine «Sopraelevazione» aus Rom. Das Zürcher Beispiel zeigt uns einen erfreulichen Beitrag im Stadtgewebe, der durch  ein Zusammentreffen von gönnerischem Spielraum der Behörde und einer praktisch-konstruktiven Idee zustande gekommen ist. Das Römer Muster ist zwar schillernd interessant, doch möchte man es nicht in der Nachbarschaft haben. Der Villino wurde zwar brutal geköpft und doch in seinem überlebenden Bereich liebevoll renoviert. Wir sehen auch hier: Die Aufgabe der Aufstockung ist anspruchsvoll und bedarf eines «Richters». Inzwischen ist die städtebaulich/architektonische Faszination durch die Aufgabe am wachsen: Bedenken und Faszination blicken sich in die Augen. Die FDP hat dieser Einschätzung Rechnung getragen und die Orientierungsveranstaltung vom 8. Juni im Architekturforum Zürich in die Hände des BSA (Bund Schweizer Architekten) gelegt. 

Aufstockungsinitiative

Die FDP der Stadt Zürich hat eine Initiative mit obigem Titel gestartet. Sie wurde bereits im Architekturforum Zürich zur Diskussion gestellt. In Genf ist eine solche Aktion schon 6 Jahre am Laufen. Eine Diskussion braucht Raum – lasst uns hier beginnen. Es ist klar, dass sich «Kistenarchitektur» am besten eignet, ebenso banale Siedlungen aus verschiedenen Jahrzehnten. «zuerivitruv» sagt – um ein Beispiel zu bringen – im Quartier Unterstrass mit seinen «Kappenhäusern» (in die Fassade heruntergezogene Dächer) eher nicht.

Und schon zeichnet sich ab, dass es eine historisch und architektonisch sehr kompetente Stelle zur Beurteilung braucht. Wie das letzte – als Einleitung zum Aufstockungsthema gedachte – Posting darlegte, waren Aufstockungen in Zürich in früheren Zeitaltern die Regel. Seit Häuser Architektur sind, ist Vorsicht geboten. Man kann sagen, dass sich additive Stile besser eigenen, als integrative. Das Beispiel Turnerstrasse links eignet sich selbstredend nicht, das Beispiel Ankerstrasse hingegen gut. Ein ausgewiesenes Architekturbüro hat diese Aufstockung zurückhaltend vorgenommen; gleich über mehrere Häuser hinweg.

Hinzu kommt – als Inspiration aus Genf – noch ein Umgebungskriterium. In Genf werden Aufstockungsvorhaben auch im Verhältnis zur Strassenbreite gesehen. Damit wird ein «humanistisches» Kriterium des guteuropäischen Städtebaus aus dem 19. Jahrhunderts wieder erweckt. In der ersten Runde sehen wir schon: «Aufstockung» ist ein anspruchsvolles Vorhaben, aber auch eine interessante Aufgabe von zeitgemässer Nützlichkeit und Notwendigkeit.

Aufstockung

Für den urbanen Flachbau (4-6 Etagen) könnte es zu einem neuen Impuls kommen. Es ist die Verdichtung durch Aufstockung; das für die gute europäische Stadt ungeeignete Hochhaus erhält eine Alternative und bekommt Konkurrenz. Dazu muss noch gesagt werden, dass mit dem Hochhaus nicht verdichtet werden kann, denn die Ausnützungsziffer begrenzt die Nutzung der Grundstücke. Es gab die Aufstockung in Zürich schon immer. Im späten Mittelalter war sie die Regel. «zuerivitruv» erlebte sie am oberen Rennweg im Gegenüber, als 7 Häuser für das Hotel Widder denkmalpflegerisch restauriert wurden. Bei der Freilegung von Verputz kam in der obersten Etage Riegelbau zum Vorschein. Leichtgewichtig, wie bei heutigen Aufstockungen. Im Fall des Widders ist das Haupthaus durch die Aufdatierung schöner geworden; in einer neuen Epoche hat man gleichzeitig Respekt und Gestaltungswillen bewiesen. Die Geschichte der Altstadt sagt uns, dass der Gebäudebestand mehrheitlich erhöht worden ist. Häuser entstanden entlang der Strassen und bei wirtschaftlichem Erfolg wurde aufgestockt.  

Das lässt sich nicht 1:1 in unsere Zeit übersetzen. Am ehesten noch das Baumaterial Holz aus zwei Gründen: leichtgewichtig und nachwachsend (CO2-neutral). In weiteren Postings soll «Aufstockung heute» nachgegangen werden.

Die Soziologie der Gebäudehöhe

Der urbane Flachbau (5-6 Etagen) im Vergleich mit dem Hochhaus: 

  • Mit zunehmender Anzahl Etagen geht der Kontakt mit dem Quartier verloren.
  • Mit zunehmender Anzahl Etagen gehen Kinder nicht mehr allein zum Spielplatz.
  • Mit zunehmender Anzahl gestapelter Wohnungen tritt Anonymität ein.
  • Ab einer gewissen Anzahl Etagen tritt der «Hors-Sol»-Zustand ein.

«zuerivitruv» konnte den Sachverhalt hautnah in der Vorstadt Tor Bella Monaca in Rom erleben: Beim Hochhaus (1 Eingang für die grosse Wohnungszahl) waren die Klingelpaneele eingeschlagen. Bei einer Reihe von 5 Wohnhäusern (5 Eingänge zu wenig Wohnungen) nicht.

Der amerikanische Architekt und Soziologe Oscar Newman berichtete bereits 1972 über den Zusammenhang zwischen Gebäudehöhe und Lebensqualität. Dazu beschrieb er u.a. die verzweifelte Aktion der New York Housing Authority in einer Hochhaussiedlung auf Manhattan: Jede Küche wurde mit einem kleinen TV und Mikrofon ausgestattet. Damit konnte die Mutter dem fernen Kind unten auf der Erde Instruktionen durchsagen. Das Resultat: Lautsprechergebrüll und erschreckte Kinder. Die Übung ist längst abgebrochen und die falsche Bauform für Menschen produziert weiterhin Probleme. Stadtplanung darf keine falschen Bauformen zulassen. Müsste wir nicht bald über Sinn und Unsinn der zu grossen Zürcher Hochhauszonen sprechen? Wie wollen wir leben, welche Zivilisation wünschen wir uns: In Anonymität gestapelt, oder im glücklichen Zusammenhang von Wohnung und Quartier?

Biotop aus Haus & Umgebung

Neuere Wohnhäuser im urbanen Flachbau kommen dem heutigen Wunsch entgegen, Erholungs- und Spielgelegenheiten in unmittelbarer Nachbarschaft anzubieten. Die in den letzten beiden Postings gezeigten Bauten um 1915 bieten lediglich Flächen im engen Grenzabstand, im «Abstandsgrün» an. Doch Weiteres geschah in der damals ungefährlichen Quartierstrasse, oder im «Pärkli» bei Einmündungen. Die dichten Quartiere Typ «1915» kompensieren heute den durch Parkierung und Verkehr verlorenen Raum beim Schulhaus, auf dessen Turnwiesen und Umgelände. Kindern und Teenagern stehen diese Aussenräume erst seit wenigen Jahrzehnten frei zur Verfügung. Wohnen und Schule sind zusammengewachsen.

Warum erfährt die private Etage im Verein mit der leichten Erreichbarkeit des Aussenraums in diesen paar Postings so viel Beachtung? Es ist die Erkenntnis, dass das Leben erstickt, wenn Erholung, Begegnung und Spiel beim Haus und im Quartier nicht möglich sind. Das Aufwachsen ist arm statt reich an Anregungen und Begegnungen. Nur der urbane Flachbau mit seinen 4-6 Etagen ist fähig, mit dem Lebensraum in der Nachbarschaft in Verbindung zu treten. Das heisst: eine solche Organisation von Haus und Nachbarschaft ist für den Erfolg einer Gesellschaft von nicht zu überschätzender Bedeutung. Wo das Hochhaus nur Vereinzelung anbieten kann, steht im Gewebe des urbanen Flachbaus ein Geflecht von Beziehungen und für das Leben lehrreichen Begegnungen im Angebot. Kinder und Erwachsene wollen hinaus, weil Vergnügen wartet. 

Der seelische Aspekt in der Nachbarschaft

Versuchen wir dem seelischen Aspekt näherzukommen, der die Qualität in einer Nachbarschaft ausmacht. Dabei ist von einer Bewohnerdichte auszugehen, die ohne einen Anteil von Familien nicht zu erreichen ist. Vielleicht ist es wie beim Fondue: ab einer gewissen Höhe über dem Caquelon reist der Faden – es ist nicht mehr so leicht, von der Wohnetage zur Strasse zu gelangen. Der Austausch wird mühsam, weil der Zusammenhang schwindet. Wo ist die Grenze? Zu viele Drehungen im Treppenhaus? Drei bis vier Etagen ist die Familie-mit-Kind-Grenze. Darüber Singles per Lift. Das seelische Befinden hat mit der Anonymität der grossen Zahl zu tun. Über 3, 4, oder 5 wird es «viel». Identität ist im «Viel» nicht mehr möglich.

Das bedenkend, kommt heraus, warum man Hottingen und Unterstrass gerne hat – auch Schwabing oder Notting Hill – aber die neuen Wohntürme an der Hohlstrasse nicht. Würde dieser Sachverhalt, der aus dem Wesen des Menschen kommt, wissenschaftlich erforscht, käme vermutlich nicht mehr heraus, als dessen Bestätigung. Wir können davon ausgehen, dass es eine «Quartiergemütlichkeit» gibt – ein Wohlbefinden und eine Geborgenheit in städtischer Dichte. Das ist die Balance zwischen Erreichbarkeit des Aussenraumes und der Privatheit auf der Etage. 

Warum wird in der Stadt Zürich diese Tatsache nicht als Grundlage für Stadtentwicklung und Verdichtung genommen? Warum schauen wir immer noch zu, wie Technokraten unsere Zukunft mit Hochhausrichtlinien bestimmen wollen? Sollte nicht die Wohnbevölkerung Massstab für die Stadtentwicklung sein?

Im dichten Stadtgewebe

Sehen wir uns im Bestand um, dann haben wir im Quartier Unterstrass ein solches urbanes Biotop von hoher Dichte. Die Mehrfamilienhäuser stehen zwar dicht, jedoch dezidiert frei an den Strassen. Rundum der minimale Grenzabstand. Was vor über 100 Jahren als «bis ins Letzte ausgerechnet» erschien, ist heute eine erstaunlich lebenswerte Bauform. Jeder, der da wohnt, ist ins Stadtgewebe eingebunden, denn es besteht Bezug zum Aussenraum. Kinder und Erwachsene erreichen noch mühelos den Strassenraum. Kinder rennen die Treppen hinunter und springen aufs Trottinett und schon sind sie bei den Kameraden. Das schafft Verbindung und «Heimat». Es ist die gesagte Nähe zur Strasse, es ist die nachbarliche Geräuschkulisse – das erheiternde Gebrabbel und doch die Privatheit auf der Etage. Kaum zu beschreiben ist dieses spezielle Lebensgefühl im guten europäischen Quartier. Als Geschenk der Dichte ist kein Laden oder Geschäft zu fern. Auch das Schulhaus nicht und im Fall von Unterstrass der Rigi-Platz und die Stolze-Wiese.

Es scheint, dass gute Stadtquartiere eine Frage des austarierten Gelichgewichts sind. Vielleicht müssen wir uns mehr um solches Gleichgewicht im Ganzen kümmern, als nur ums einzelne Haus. Wo ist die gestaltende Hand?